Im ersten Moment könnte man meinen, Vasily Petrenkos Interpretation von Leonard Bernsteins Ouvertüre zu Candide wäre bloß hemdsärmelig. Insbesondere da die Instrumentengruppen gerade zu Beginn etwas salopp koordiniert sind. Beim Gastspiel mit dem Royal Philharmonic Orchestra in der Kölner Philharmonie am Montag merkte man aber sehr schnell, dass diesem ersten legeren Eindruck teils hoch präzise Detailarbeit zugrunde liegt. So trieben Petrenko und sein Orchester, dessen Chefdirigent der Russe seit der Spielzeit 2021/22 ist, die Ouvertüre teils bis zur Groteske auf die Spitze – etwa bei den kurzen, aber rasanten Pizzicato-Passagen. Dabei klang das Stück kurzzeitig fast nach einem Schostakowitsch-Scherzo statt nach Broadway.

Vasily Petrenko
© Svetlana Tarlova

Dass Petrenko das Unorthodoxe zur Maxime erhebt, begriff man vollumfänglich aber erst nach der Pause, als er mit den Londonern Rachmaninows Symphonische Tänze interpretierte. Auch hier klang vieles ungestüm, aber bei Petrenko geriet es eben nicht außer Kontrolle. Man könnte die Temporückungen zwar durchaus extrem bezeichnen, sie haben aber ihren Sinn, etwa im walzerhaften zweiten Satz, der unter Petrenko kurzzeitig fast zum Stehen geriett, nur um umso fataler neuen Schwung zu holen. Unbeschwert kann dieser Mittelsatz eigentlich niemals klingen, Petrenko schien diese Erkenntnis aber mit einfachsten Mitteln aus der Partitur zu schütteln und verfiel dabei eben nicht ins Zähe, sondern staubte sogar noch etwas Patina ab.

Die Ecksätze hingegen gestaltete er geradlinig und zügig, fast schon militärisch klang das Allegro des ersten Satzes. Rückwärtsgewandt und melancholisch tönte das alles nicht und das ist genau richtig so. Diese Interpretation eröffnete einen hinreißenden neuen Blick auf die wohlbekannten Tänze. Die sind plötzlich elektrisierend und steigern sich im Allegro vivace des Finalsatzes noch einmal ins scheinbar Unermessliche.

Anne-Sophie Mutter
© The Japan Art Association

Dazwischen spielte das RPO gemeinsam mit Anne-Sophie Mutter das Konzert für Violine und Orchester des 2019 verstorbenen Dirigentenkomponisten André Previn. Der hatte Mutter das Werk 2001 zur gemeinsamen Verlobung geschenkt. Vielleicht gilt für dieses Werk noch mehr als für andere Stücke, dass es der Widmungsträgerin auf den Leib geschneidert ist. Mit dem Beinamen „Anne-Sophie“ zeigt es doch die ungeheure Ausdrucksvielfalt, die Mutter auf ihrem Instrument zur Verfügung stehen.

Der Filmmusikkomponist Previn ist auch in diesem Werk sehr präsent. Er wirft sich dem Publikum ebenso mit Hollywood-Kitsch entgegen, wie er es mit fiebrig schroffen Episoden wieder von sich drückt. Mutter und das RPO führten diese Gegensätze auch hier wieder geschickt zusammen. Exemplarisch zeigte sich das etwa im zweiten Satz. Mutter leitete diesen mit einer fast schon spröden Solokadenz ein, die gleichzeitig die fahle Atmosphäre eines Film noirs heraufbeschwörte. Petrenko und das RPO kleideten diese behutsam mit vielschichtigen Klangfarben aus. Mutters Ton klang plötzlich wieder silbrig, in der Tiefe sattwarm und selbst in der höchsten Höhe kristallklar und brillant. Wer sich auf dieses Klangabenteuer einließ, entdeckte ein Kaleidoskop an Farben, das in jeder Sekunde überraschend war.

Als Zugabe spielte Mutter ebenfalls ein Werk von Previn, das dieser ohnehin als Beigabe für sein Violinkonzert komponiert hat. Zwei Zugaben spielten übrigens auch das RPO und Petrenko im Anschluss an das Programm alleine. Es waren zwei Stücke der Russen Rimski-Korsakow und Mussorgsky aus den Opern Die Nacht vor Weihnachten und Der Jahrmarkt von Sorotschinzy – beide Opern erzählen Geschichten in ukrainischen Dörfern. Dieses Konzert hallt auf unterschiedlichste Weise nach.

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