Es kommt nicht oft vor, dass die Berliner Philharmoniker die jahrelange künstlerische Partnerschaft mit einem Künstler, beziehungsweiser einer Künstlerin, in einem eigenen Jubiläumskonzert würdigen. Aber die 40-jährige Zusammenarbeit mit Anne-Sophie Mutter ist ihnen doch Anlass genug dazu. Am 28. Mai 1977 gab die Geigerin im Alter von 13 Jahren ihr Debüt beim Orchester und spielte unter der Leitung ihres Entdeckers Herbert von Karajan Mozarts G-Dur-Violinkonzert. Dies war der Beginn einer in der Geschichte des Orchesters wohl beispiellosen Beziehung, als deren Höhepunkte Mutters Mitwirkung beim Festkonzert zum 100-jährigen Bestehen des Orchesters (1982), bei der Eröffnung des Kammermusiksaals (1987) und beim Konzert zum 100. Geburtstag Herbert von Karajans (2008) gelten.
Bei diesem Konzert spielte sie Tschaikowskys Violinkonzert, das sie zwar 1988 als letztes Werk mit Karajan eingespielt hat: allerdings begleiteten damals die Wiener Philharmoniker. Mit den Berliner Philharmonikern hat sie das Stück noch nie gespielt. Dirigent ist der seit über 40 Jahren mit dem Orchester verbundene Riccardo Muti.
Tschaikowskys Violinkonzert gehört zu den unbeschwerten Werken des Komponisten, das aus reiner Musizierlust entstanden ist: „In solchem Gemütszustand verliert das Schaffen gänzlich das Gepräge der Arbeit; es ist reinste Seligkeit!“ schrieb er 1878 seiner Gönnerin Nadeshda von Meck. Und von solcher Spielfreude war diese Aufführung auch geprägt. Das Konzert erlaubt der Geigerin die gesamte Bandbreite ihrer Kunst zu entfalten. Sie weiß genau, wann dieses Register zu ziehen ist, wann jenes. Und eben diese Meisterschaft macht aus einer virtuosen Achterbahnfahrt, zu der das Konzert mitunter doch einlädt, eine große Darbietung: Während sie das Hauptthema schlicht im Ton vorträgt, kehrt sie im Seitenthema das Rhapsodisch-Improvisierte hervor und gestattet sich Temposchwankungen.
Wenn sie im letzten Satz in dem durch die Angabe Meno mosso vom übrigen Rondo abgesetzten Couplet-Thema über der Bordunquinte sogar bewusst nachschleifen lässt und, salopp gesagt, die Violine schmiert, statt sie kultiviert zu streichen, um den volkstümlichen Charakter in dem sonst so fulminanten wie kapriziösen Satz hervorzuheben, dann wird aus ihrem Vortrag kein bloß schönes Spiel, das sie berühmt gemacht hat, sondern Formgestaltung in aller Vielseitigkeit, die ihr in jungen Jahren noch fehlte. Nun ist es ihr möglich, in den Ecksätzen die Opposition aus lyrisch-sublimem und schwermütig-wildem, mitunter fast „plebejischem“ Spiel zu gestalten – und sie hat sowohl den Mut als auch die Fähigkeit, diesen Kontrast zu entfalten. Die schwindelerregende Solokadenz des Kopfsatzes ist mit spieltechnischen Schwierigkeiten gepfeffert. In den Kaskaden sind die beiden Themen versteckt. Mutter entdeckt sie, ohne ihnen ihr Kostüm abzustreifen.
Berührend wird dann der zweite Satz musiziert, auch weil das Orchester, vor allem die großartig aufgelegten Holzbläser, feinsinnig mit der Solovioline in Dialog treten.
Das mit Dämpfer vorzutragende erste Thema intoniert Mutter vibratolos, fast gehaucht und legt es wie als Hülle um das Herzstück des ganzen Konzerts. In dem Es-Dur-Thema des Mittelabschnitts kann sie nun ihre doch wohl allergrößte Kunst entfalten und auf der Geige so singen wie es ganz selten so zu hören ist. Alles läuft in diesem Brennpunkt zusammen und sie vermag es, die Zeit anzuhalten. Hier versagt Sprache – dieses Leuchten im Ton muss man gehört und erlebt haben.
Die Geigerin bedankte sich für den frenetischen Beifall und spielte die Sarabande aus Bachs d-Moll-Partita. Sie widmete ihre Zugabe nach eigenen Worten an das Publikum Herbert von Karajan.
Von ganz anderem Charakter ist die nach der Pause aufgeführte Symphonie Nr. 4 Tschaikowskys. Muti nimmt die eröffnende Bläserfanfare, in der Tschaikowsky das „Fatum als verhängnisvolle Macht“ ausdrückt, „die wie ein Damoklesschwert über unserem Haupt hängt und unsere Seele unentwegt vergiftet“, langsam und gemessen. Die Form des Kopfsatzes lässt er in mehreren Durchgängen wie eine Spiralbewegung ausbreiten, um sich dieser Kraft zu entziehen. Sehr deutlich wird diese Absicht, wenn er die dritte Themengruppe wie als Musik aus der Ferne beginnen und Schritt für Schritt Fuß fassen lässt. Umso aussichtsloser wird der ganze Satz, wenn an seinem Ende die Fanfare mit aller Macht und in den Notenwerten vergrößert wiederkehrt. Zu dieser Intonation ist dann alle Kraftanstrengung notwendig!
Die mittleren Sätze dienen der Erinnerung und Zerstreuung und sind als solche auch vorgetragen worden. Muti tritt in ihnen zurück und lässt in dem „nach Art einer Canzone“ komponierten langsamen Satz die Oboe ihre erinnerungsselige Melodie auskosten und durch die anderen Stimmen des Orchesters führen. Noch beeindruckender ist dann die Orchestervirtuosität im dritten Satz, den die Musiker, Tschaikowskys Absichten genau umsetzend, als Arabeske gestaltet haben. Die Streicher-Pizzicati huschen transparent und in den Instrumentengruppen präzise geschichtet flugs vorüber.
Das Finale gehört zu den umstrittenen Sätzen Tschaikowskys; denn er geht in ihm auf eine zwiespältige Weise mit der Folklore um. Im Couplet des Rondos greift er auf das russische Volkslied „Stand ein Birkenbaum im Felde“ zurück, dessen „unbeschreibliche Schönheit“ er selbst einmal rühmte. Doch lässt er sie sich nur kurz ungestört entfalten. Schließlich gerät sie in den Sog der Schicksalsfanfare vom Beginn. Der Konflikt bleibt ungelöst und die lärmende Apotheose erscheint dem Schluss ganz aufgesetzt, um ein Happy End zu erzwingen.„Gehen Sie unter das Volk! Man schöpfe Glück aus der Freude anderer! So ist das Leben immerhin erträglich.“ Diese selbsterwählte Fremdbestimmung lässt Mutis so glanzvoll präsentierten Schluss in seiner Zwiespältigkeit hören. Es ist schwer vorstellbar, dass Tschaikowsky noch an ein „Durch-Nacht-zum-Licht“ geglaubt hat.