Auch der freiheitsliebende Ludwig van Beethoven befand sich in Bonn durch die Coronabestimmungen zu den anvisierten Feierlichkeiten zum großen Jubiläum 2020 in einer schwer erträglichen Form der Quarantäne, die nun – zum festlichen Auftakt mit der Neunten Symphonie – im besungenen Taumel der Freude verlassen werden konnte. Dafür anreisen konnte damit endlich zusammen mit seinem Ensemble Le Concert des Nations der im letzten Herbst selbst wegen einer COVID-19-Infektion eingeschlossene Jordi Savall, der seinen europäischen Zyklus aller Symphonien – jetzt eben zusätzlich eingegliedert in den tourneebestimmten Rahmen zum 80. Geburtstag – peu à peu nachholt. Und den Startschuss dafür gab derjenige des Beethovenfests unter dem bestens passenden Klopstock-Motto „Auferstehn, ja auferstehn“, für das sich eben und allerdings der letztes Jahr zum Sonderfestival geplante Currentzis-Antonini-Lauf sowie Leonore-Raritäten unter Leitung Christophe Roussets und Alessandro De Marchis nicht nochmals rekonstruieren ließen. Dennoch blieb für die reguläre Edition jetzt eine halbe Originalklangstrecke dadurch bestehen, dass Roussets Les Talens Lyriques und das B'Rock Orchestra mit De Marchi in die hiesig für das Eröffnungswochenende mit fünf europäischen Orchestern konzipierte Integrale eingebunden werden konnten.

Manuel Walser, Martin Platz, Jordi Savall, Laila Salome Fischer, Sara Gouzy, Le Concert des Nations
© Barbara Frommann

Wer Savalls ersten Teil seiner CD-Einspielung mit für ihn trotz aller richtigen historischen Notwendigkeit eher überraschend schnellen, so halbwegs annähernd metronomgetreuen Tempi und – als persönliche Note – dem besonders prominenten Hervortreten der Pauken und Hörner gehört hat, der durfte der bisher unvernommenen Neunten mit der Bürde der Erwartungshaltung und dem Wunsch der erfüllenden Konsequenz entgegenfiebern. Bis auf ein paar Abstriche hielt er sowohl ersterer stand als er auch letztere einlöste, indem die Interpretation – vor allem natürlich mit der finalen Ode – durch die schlankere Oratorienhaftigkeit wie ein offenes Fenster in die Werkstatt der Instrumente und deren gefeierten Arrangeurs anmutete. Zwar setzte die Flöte gleich zum Beginn des Neugierde aufkommenden Auftakts des Kopfsatzes unsauber ein, doch entfaltete sich unmittelbar besagte mit Aufregung, Interesse, Effekt und Charmanz behaftete Urtümlichkeit der knarzenden, röhrenden und glucksenden Hörner und der hellen, harten Pauken. Zu diesen bewusst ausgereizten klanglichen Farben der mit Ecken und Kanten ver- und so selbst zu damaliger Zeit und heutiger schon ziemlicher historischer Gewohnheit Aufsehen erregenden Instrumentierung trat das von Beethoven-Konzertmeister Jakob Lehmann angeführte Gewirke der Streicher, die – flankiert von Dynamik – selbstverständlich das Fundament von bedrohlich-kämpferischen oder sanfteren Kontrasten legten.

Ein herrlich derbes, arbeitendes Zurufen und auf sich aufmerksam machendes Interagieren der korrekterweise „nicht überdimensionierten oder überladenen“ Sektionen von Le Concert des Nations hielt das Scherzo bereit, als Pauke und Hörner natürlich knallend wie anregend rumpelig ihre Akzente setzen konnten. Etwas vorsichtiger und in der Motivgestaltung wortwörtlich mühevoller zu Werke gingen die Naturhörner allerdings im Presto-Trio, in dem die wellig-phrasierten, gut balancierten Striche der Streicher gemeinsam mit präsenteren Fagotten und Oboen sowie den Barockposaunen Halt gaben auf der Werkbank Savalls. Beethovens Scherzi erweisen sich ja oftmals als eine Art nasedrehendes Rätsel, also eine Unterhaltung durch Um- oder Abkehr vom Erwarteten. Nicht anders ist das eben in der Neunten, in der der zweite Satz nunmal nicht als jener weiterverbaute Klassiker eines humoristischen Haydn dienen kann. Mit dem Abschluss des Molto vivace gelang es Savall jedoch, ganz kurz diesen eigentlichen Affekt dadurch hervorzuheben, dass er einen überraschend leichteren Punkt setzte.

Die gesangliche und durch Abwesenheit von Vibrato zauberhafte Seite brachten die tiefer gestimmten, darmbesaiteten warmen Streicher zusammen mit selbigem Holz der Bläser im langsamen dritten Satz ein, in dem das Hornsolo genauso lockte wie der herzliche Reigen an Bögen und der knackige hymnische Weckruf. Dieser erschallte ausgiebig im Finale der Ode, wobei allein der Anfangstakt nicht den vermeintlich revolutionär wuchtigen Charakter wie vermutet hatte. Auch die Tempoabstufungen waren eigentlich unmerklicher Natur. Stattdessen entwickelte sich das feierlich-freudige Odenthema vom brüchigen Solitär zum gemeinschaftlichen Legato und damit – unter der Brillanz der Streicher und dem Schnarren des Kontrafagotts – zu eingangs erwähntem oratorien- und textbasierten Ausdruck. Denn Manuel Walser forderte deutlich ohne falsch verstandene opernhafte Malträtierung – bis auf Sara Gouzys Vibrato und ihrer teilweisen Intonationsproblematik im Quartett – völlig kongruent zu „angenehmeren Tönen“ auf. Der Bonner Kammerchor Vox Bona (unter Einstudierung von Leiterin Karin Freist-Wissing und Assistent Lluís Vilamajó) jubelte dort – mit besonders eifrigen Tenören – als Quell der Klarheit und besungener „Freude“ oder in ehrfürchtig-demütigerer Zurückhaltung des göttlichen Himmelsanrufs als nicht schreiender, sondern beweglicher, erfüllender Musterschüler ergangenen Auftrags. Wie auch Solist Martin Platz in seiner Helden-Aria oder Mezzo Laila Salome Fischer als passende Stil- wie Timbre-Bereicherung belegten, erwies sich die an der Deklamation orientierte Heransgehensweise als wahrliche Neuerung, die bei Beethoven keine Utopie bleiben muss.

Christophe Rousset mit Les Talens Lyriques
© Barbara Formmann

Ein nicht verwunderlich ähnliches, aber – so wunderbar groß ist die Palette historisch instrumentierter Möglichkeiten! – doch wiederum sehr unterschiedliches Klangbild gaben Les Talens Lyriques unter ihrem Gründer Christophe Rousset bei der Aufführung von Beethovens Achter und Siebenter ab. Nicht nur, dass das Holz, besonders die tonlich stimmigere, für den Schlussakkord des ersten Satzes der Achten ins Spotlight gestellte Flöte, selbstsicherer auftrat, auch die Hörner feuerten in der natürlich kleineren – ebenfalls antiphonen – Besetzung noch mehr ihres farblich robusten Spektrums ab. So auch Marie-Ange Petits leicht dunklere Pauken, die heftige Akzente zusammen mit den stechenden Naturtrompeten und äußerst agil artikulierten Streichern beschallen durfte. Entspannt, neckisch und dabei straff zeigte sich das Allegretto scherzando, dem Rousset mit dem eigentlichen Menuett die Krone der Eigentümlichkeit folgen ließ, als das nachmittäglich gemütliche und akkurate Trio-Intermezzo-Tralala vom köstlich burschikos-einfältig überspitzten Kapellen-Eidadei unterbrochen wurde. Pointiert geriet zudem das schnelle, messerscharfe Allegro vivace, das in der Gaudi des Beethovianisch Sonderbaren die Kraft der Instrumente unterstrich.

Jene Kraft war abermals gesteigerter herausgefordert, um bei der gewaltigen Siebenten mit alert-bissigen Akkorden in die Vollen zu gehen. So erreichte Roussets Sicht spielerisch eine majestätische Ausstrahlung und dramatische Wucht des Wilden, Aufbäumenden und Ungestümen, allerdings ging sie durch ein leider eher gemächliches Tempo mit einer leichten Starrheit abseits eines rhythmisch idiomatisierten Tanzes einher. In die beinahe – trotz historischer Analytik – typische Falle des Tempos tappte der Dirigent auch beim berüchtigten zweiten Satz, als er das Allegretto zu trauermarschig schwermütig empfand. Dennoch konstruierte er in dieser theatralisch-situativen Manier ein erscheinendes Lebenslicht, das wiederum vor allem durch die Flöte leuchtete. Es war ein gewisser Ruhepol, bevor ein richtiger Cut erfolgte. Rousset wirbelte mit den Talens Lyriques durch ein schroffes, zünftiges, feuriges Scherzo hinein in einen wirklichen Sturm des Finales. Und somit in den Sog dessen, was Authentizität ausmacht: eine Energie mit dem In-den-Anschlag-bringen der Instrumente Beethovens Zeit, voller technisch an die Grenzen führender Akzentuierungen, Akkordplatzer, Dynamiken und Tremoli.

Alessandro De Marchi dirigiert das B'Rock Orchestra
© Barbara Frommann

Als Koen Plaetinck, einer von B'Rock Orchestras Paukisten, die Bühne für die Wiedergabe der Zweiten und Fünften Symphonie betrat, stand fest, dass zum dritten und letzten Originalklangkonzert des Eröffnungswochenendes eine weitere Steigerung vernommen werden konnte. Zwar sollte er der einzige sein, der in den Reihen des stehenden Ensembles – das Festivalmotto wurde also auch doppelt ganz sinnbildlich genommen! – saß, doch riss er – wie üblich und berühmt – mit seinem elektrisierenden Spiel förmlich von den Sitzen. Da ergab das vor ihm befindliche, unter Gastdirigent Alessandro De Marchi in die Besetzung eingeschmuggelte, Hammerklavier überhaupt keinen Sinn mehr. Abgesehen von den demnach maximal aufgefahrenen Paukentönen bestach das Orchester durch eine im Vergleich zu vorherigen Kollegen abgrenzend wärmere Gesamthomogenität, dem der sehr exakt, elegant, mitgehend, zuvorkommend und kommunikativ dirigierende De Marchi bei allem Guss und Wohlgefallen die so wichtigen und deutlichen Phrasierungen und Sforzati, ja einfach samt den korrekt zügigen Tempi allen Schwung und Frische entlockte. Die Zweite avancierte daher zu einem spektakulären Gipfel tänzerischer Vitalität.

Diese ging auch in den Wogen der Fünften nicht unter. Im Gegenteil, das Drängen zum Licht war von Anfang an durch Horn, Fagott und Pauke noch auffälliger. Während die galanten Streicher unter Leitung von Gastkonzertmeisterin Nadja Zwiener sowie stark die Klarinette zum kantablen beziehungsweise die Trompeten und Pauken zum bereits hymnenvollen Thema im Andante con moto für Beflügelung sorgten, speiste sich aus dem umstürzenden Menuett-Trio ein untergrundlicher Ansporn, der im C-Dur-Allegro mit Sackbuts und Kontrafagott eine triumphale Lichtexplosion freisetzte. Wie es dem Fortepianisten vor den Pauken zwangsläufig ergangen sein muss, fühlte ich mich als Empfänger dabei durch das Hören Beethovens Musik als Teil der aktiven Gemeinschaft. Quarantäne ade, verantwortbar und ersehnt stand in Bonn zur Eröffnung des Beethovenfests nicht ganz normaler Beethoven auf historischen Instrumenten auf!

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