Mit Beethovens Eroica-Variationen eröffnete Grigory Sokolov seinen Klavierabend im Gewandhaus zu Leipzig. Dieser Pianist ist ein so ernster Musiker, dass er dem Humor des Unisono-Beginns, in dem die erste Vorbereitung, das Gerüst der Variationenfolge exponiert wird, wenig Beachtung schenkte. Er trug diese einstimmige Derbheit mit den auftrumpfenden Tonrepetitionen und den nachklappernden Oktavierungen sehr getragen vor. Offenbar ging es ihm darum, zu zeigen, dass alles in dieser in „neuer Manier“ komponierten Variationenfolge auf ein Ziel ausgerichtet ist, um sie zu einer Sonate werden zu lassen. Die Themenmelodie wurde darum von Sokolov zum Hautthema erklärt. Weder dieses Thema noch der anfangs vorgestellte Bass waren im Folgenden immer anwesend, weil Beethoven ganz Neues aus ihnen gewonnen und das Gegebene wirklich verändert und nicht nur variiert hat. Mit großem Ernst gestaltete Sokolov den langsamen Satz vor der Fuge, die er dann als gesteigerte vom bisher Erklungenen gesättigte zweite Vorbereitung spielte, die dann schließlich in der aufblühenden zweiten Geburt der Melodie kulminierte, die Sokolov dann mit aller Kunst seiner Fingerfertigkeit zuerst mit Girlanden umrankte, dann den Bass bilden ließ.

Grigory Sokolov
© Anna Flegontova

Bei den Drei Intermezzi von Brahms nahm Sokolov deren Untertitel, „Wiegenlieder meiner Schmerzen“, ganz beim Wort. Das erste Stück geriet unter seinen Fingern zu einer Berceuse, die wie aus fernen Zeiten herüberklang. Im mittleren Teil zerbrachen die Elemente in Motivpartikel; in der Reprise ließ Sokolov die Melodie wie als Trostbild über Glockentönen erklingen. Im zweiten Intermezzo wurde die Tastatur durch Pedalgebrauch zu Harfensaiten, auf denen Sokolov die Sequenzen rauschen ließ und die Dissonanzen zu Scheinkonsonanzen verzauberte. Eine Passage von Wienerischer Seligkeit durfte sich nur kurz ausbreiten und kam in der Reprise nicht wieder. Mit einem b-Moll-Dreiklang den Sokolov über die gesamte Tastatur ausbreitete beendete er diesen Traum ohne eine Illusion auf seine Erfüllung. Mit raunendem Ton begann das letzte Intermezzo mit einer für Brahms so charakteristischen Unisono-Melodie in gedämpfter Stimme.

Mit Schumanns Kreisleriana erklang ein Stück, das mit dem Vollenden von Musik hadert und sich im Fantasieren, Assoziieren und Zitieren von Bekanntem ins Einzelne zu verlieren droht. Sokolov spielte die originale, nicht revidierte Fassung von 1838 mit all ihren Ritardandi, die dem Zweifel über den Sinn all der kontrapunktischen Finessen und Fugati einen sehr eigenen Ausdruck geben. Der Platz hier reicht nicht aus, um all die Feinheiten zu loben, die Sokolov diesem verrückten Stück abzugewinnen vermochte. Eine Beobachtung soll für das Ganze sprechen: Im zweiten Intermezzo gibt es eine Stelle, in der Fis-Dur und Ges-Dur miteinander in Konflikt geraten, womit Schumann dem „unisonierenden Dualismus“, von dem Hoffmanns Kreisler gesprochen hat, seine musikalische Entsprechung gegeben hat. Allein zu hören, wie Sokolov den Melodiebogen in Fis-Dur aufleuchten ließ, und dann abschattierte, wenn er in Ges-Dur notiert ist, statt alles in enharmonischer Verwechslung einzudämmen, machte deutlich, dass er nicht allein mit Zauberhänden farbenreich zu spielen, sondern die Zusammenhänge zwischen literarischer und musikalischer Poesie zu durchleuchten und sinnlich erfahrbar zu machen verstand. Am Ende der letzten Fantasie ließ er die linke und die rechte Hand ihr Eigenleben führen und Kreisler schließlich im pianissimo plötzlich ganz verschwinden.

Wer Sokolov kennt, der weiß, dass der Abend noch lange nicht vorbei war – in sechs Zugaben erinnerte er an frühere Konzerte. Bewundernswert war dabei vor allem seine Darbietung der g-Moll-Ballade aus den Klavierstücken Op.118 von Brahms oder die der von ihm so geliebten Mazurka Chopins, die er fast immer bei Zugaben spielt. Nach der Busoni-Bearbeitung des Bach-Chorals „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ verschwand dann auch Sokolov vom Podium… bis er hoffentlich in der nächsten Spielzeit mit einem neuen Programm wieder einen vollen Saal in Begeisterung versetzt.

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