Auf dem Programm Raphaël Pichons und seiner Ensembles Pygmalion für das Debüt im Konzerthaus Dortmund stand im Angesicht der überragenden Komponistenverehrung des Dirigenten und seines aktuellen, aus anderem zeitlichen Blickwinkel betrachteten Projekts „Die Wege Bachs“ Johann Sebastian Bach und dessen Erbe, das Sohn Carl Philipp Emanuel verwaltete und in Hamburg prominent über die Jahre bis zu den Klassikmeistern in Wien und ganz Europa hochhielt. Jener Hansestadt an der Elbe, in der Felix Mendelssohn zur Welt kam, um später als Gewandhauskapellmeister das von Emanuels Patenonkel, Mitvorbild und Musikdirektorenvorgänger Telemann gegründete, viele weitere Jahre nach Bachs Übernahme zur großen Institution eines klassischen, romantischen Klangkörpers gewordene Orchester beispielsweise in der Thomaskirche für die Uraufführung seiner Symphoniekantate Lobgesang bei der 400-Jahr-Feier zur Buchdruckerfindung Gutenbergs zu leiten. Und um generell eine Wieder- und Weiterbeschäftigung im 19. Jahrhundert über weitere musikalische Nachkommen und Kollegen mitloszutreten, die bis heute fest mit dem Namen Mendelssohn verbunden ist.
So erklang mit der Motette Der Geist hilft unser Schwachheit auf der bedeutendste musikalische Erblasser in Leipzig natürlich zunächst selbst. Hatte Pichon erst mit Singet dem Herrn ein neues Lied die Bach-Motette mit passendem Text zu Mendelssohns Psalmvers „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn“ angedacht, bildete BWV226 einen Einstiegskontrast und gleichfalls stimmigen, dramaturgischeren Aufhänger zum historischen Anlass, gehört sie zu den Universitätsfestmusiken und sollte doch damals die endlich vervielfältigte Bibel nun den Weg „aus der Finsternis zum Licht“ weisen. Hinzu kam ja auch Emanuels Sanctus-Vertonung als schon genügend ähnlicher Vorlauf zum romantischen Hauptpunkt. Allerdings veränderte Pichon, dem in daraus resultierender Ausübung – speziell des Chores – über das Konzert ein besonders drängender Impetus innewohnte, kurzfristig erneut nachvollziehbar den Ablauf, indem er aus orchestral gedachtem Überleitungsabsetzen die Reihenfolge umstellte und deshalb mit CPE Bachs Chorsatz von 1776 startete. Darin spielte er mit den demütigen, getragenen Heilig-Rufen, die nach dem Beginn die exorbitant schnelle Fuge extravagant abrupt durchkreuzten, gestaffelt mit Dynamik und Zeit. Obwohl die damit hergestellte Dramatik schon zu erkennen war, sollte sie auf einen in fast unnachahmlicher Ansprache und Effekterzielung vollends in der A-Cappella-Motette niederprasseln, als der Chœur Pygmalion seine deklamatorische und vokal balancierte Superklasse in den Raum warf.
In einem Brief an seinen besten Freund, Texter, Berater und Agenten in London, Karl Klingemann, dem Urgroßvater meines ehemaligen Vermieters in Bonn, schrieb Mendelssohn zur Symphoniekantate: „Du verstehst schon, dass erst die Instrumente in ihrer Art loben, und dann der Chor und die einzelnen Stimmen.“ Danach ist es – im besten Fall, wie jetzt – der Kritiker, als der ich die Umsetzung Pygmalions loben darf, die selbst manch gehörte historisch-informierte Interpretation nochmals abstaubte. Zwar nicht auf die Aufstellung von Chor und Orchester bezogen, die leider in ihrer bei Pichon nach wie vor unkorrekten Nicht-Antiphonalität instrumental diesmal Möglichkeiten merklich verschenkte, aber auf Tempo und Artikulation. Mit juvenil-stürmischem, rücksichtslosem Elan, durch den sonst ab und zu in lyrischen Passagen einzughaltende Schwerfälligkeit und – vermeintlich romantisch – etwas schleimiger Phrasierungskitsch glücklicherweise keine Chance hatten, steuerte Pichon seine Ensembles in Überwäligungspaketen theatralisch zielgenau zu den gleißend-schlagkräftigen und feierlich-erfrischenden „Waffen des Lichts“.
Auf Ebene der Symphonie bedeutete dies, dass in aller Zügigkeit norddeutsch-protestantischer Choralernst, südländisch-lässigere Strömungen, Tanz und Anmut sowie weiche Vorbereitung der berührenden Vokaldramatik zusammenflossen, ohne dass es ausdruckstechnische Abstriche gab. Auf derjenigen der Kantate, dass das Orchestre Pygmalion weiter beherzt begleitete, der Chor mit entgegengeschleuderter Wucht und Wundersprech seine verständliche Klangkultur nicht verlor und sich die Solisten in diesen stilistischen Rahmen auffangend einfügten. Julia Kleiter in Solo und Duetten mit leuchtendem, angenehm timbrierten Sopran voller Übergangsgeschicklichkeit, erhebender Diktion und penetranzlosem Vibrato, Hagar Sharvit mit wunderbar dunklerer, stärker vibratoansätziger Mezzotonalität zum überbordenden Trost und Robin Tritschler mit sich ergänzender Entsprechung und zusätzlicher Klarheit in modern-liedlicher und oratorischer Hingebung.