Es ist schon verwunderlich, dass sich Ulrich Rasche erst jetzt – immerhin ist er über fünfzig – einem Chorwerk von Johann Sebastian Bach widmet, schließlich pflegt er seit rund zwei Jahrzehnten eine Bühnensprache, die dem Chorischen sehr verwandt ist, wenn nicht gar von ihm abgeleitet wurde. Und vor fast zwanzig Jahren war er mit einer Arbeit Bach sogar sehr nahe. Kirchenlieder brachte er damals auf die Bühne des Schauspielhauses Stuttgart – und ließ fast ausschließlich die Akteure ritualhaft strukturiert über die Bühne schreiten, dabei Kirchenmotetten sprechen oder auch leise singen, unter anderem Bach.
Ein in sich geschlossenes Chorwerk des Thomaskantors freilich ist eine ganz andere Herausforderung als eine von ihm selbst erstellte Motettencollage, und gleich zu Beginn der Johannes-Passion macht Rasche deutlich, wie genau er Bachs Partitur gelesen hat. Noch bevor das Orchester mit der langen, drängenden Einleitung zum ersten Chor beginnt, ertönen dumpfe Paukenschläge – Andeutung einer beklemmenden Notlage – und damit setzt ja auch Bachs Passion ein. Was vom Text her klingt wie eine feierliche Anrufung – „Herr, zeig uns“ –, ist durch Bachs Musik Ausdruck eines existentiellen Bedürfnisses: Diese Menschengruppe, man kann sie auch Gesellschaft oder gar Menschheit nennen, hat Leitung nötig, Ziele, Zuversicht. Bei Rasche schleppen sich die Menschen in einem großen Kreis auf einer Drehbühne langsam voran, sehr langsam. Er greift damit den schreitenden Bass auf, der sich durch Bachs ganze Passion zieht.
Noch sind die Menschen in ihrer verzweifelten Sehnsucht vereint, singt der ganze Chor. Dabei freilich bleibt es nicht. Rasche hat den Text genau gelesen und darin eine Vielzahl von Gruppierungen ausgemacht: die Anhänger Christi, seine Gegner, römische Besatzungssoldaten, Vertreter der herrschenden Obrigkeit wie Pontius Pilatus. Und so teilt er denn auch bald den Chor in kleine, manchmal fast solistisch besetzte Gruppen auf. Szenisch macht er die Unterschiede durch die Kleidung deutlich. Die Anhänger Jesu weiß, die Gegner schwarz, Pilatus, der sich nicht entscheiden kann, Grau.
Mehr an Hinweisen liefert Rasche nicht, im Gegenteil. Seine szenische Version von Bachs Passion überlässt es dem Betrachter, Deutungen zu entwickeln. Sind die drei Leuchttafeln, die sich zum Golgathageschehen von oben herabsenken, Hinweise auf die drei Kreuze oder auf die Dreifaltigkeit, sind die Anhänger Jesu die einzigen, die fasziniert sind von seinen Worten, oder gibt es durchaus auch Faszination auf der Gegenseite? Am Ende ist der Chor wieder gesanglich vereint und folgt dem Leichnam Christi, symbolisiert durch ein schwarzes Tuch, das allen vorangetragen wird. Damit realisiert Rasche szenisch die Klammer, die bei Bach Eingangs- und Schlusschor andeuten.
Kontrapunkte in diesem Gemeinschaftshandeln, dem chorischen Prinzip seiner Inszenierung, sind die Einzelfiguren, denen er durchaus den Raum zugesteht, den sie in Bachs Komposition haben. Immer wieder stehen sich Jesus und Pilatus als Kontrahenten gegenüber, mehr noch: als Dialogpartner. Der Evangelist, der das Geschehen erzählend vermittelt, zieht sich in diesen Szenen zwar zurück, ist aber dennoch allgegenwärtig und taucht manchmal fast unerwartet und geräuschlos wieder auf der Szene auf. Moritz Kallenberg gelingt dabei eine überwältigende Darstellung eines einerseits neutral das Geschehen Vermittelnden, andererseits – was die Musik nahelegt – von dem Geschehen, das er vermittelt, unmittelbar Ergriffenen. Shigeo Ishino gestaltet Jesus – faszinierend wie in allen seinen bisherigen Rollen – als den anderen überlegene Figur, die genau weiß, welches Schicksal ihr vorausbestimmt ist und welche ihr dadurch zukommt – ein Leidender, der zugleich weiß, dass sein Leiden einen Sinn hat.
Den von Manuel Pujol geleiteten Staatsopernchor freilich stellt Rasches Inszenierung vor nahezu unlösbare Probleme. Ist er in einzelne Gruppen aufgeteilt, gelingt ihm, der wohl einer der besten Opernchöre Deutschlands ist, die Präzision, die Textverständlichkeit und Ausdruck verlangen. Doch im Gesamtklang, vor allem zu Beginn, rächt sich, dass die Mitglieder des Chors, wie bei einer Operninszenierung selbstverständlich, durcheinander gemischt über die Bühne ziehen, mal hinten stehen, mal an der Rampe. Was im Konzertsaal durch die statische Platzierung der Sänger klanglich präzise vermittelt werden kann, geht hier stellenweise in einem Klangnebel unter.
So erhebt sich die Frage, was durch Rasches szenische Darbietung mit der Bach’schen Passion geschieht, denn schon die Tatsache, dass eine Passion im Opernhaus aufgeführt und nicht in einer Kirche oder einem Konzertsaal, verändert die Rezeptionshaltung. Der Applaus, stark bis frenetisch, hatte jedenfalls die Ästhetik eines typischen Opernaufführungsbeifalls.
Rasche lenkt den Blick zwar auf die Parteiungen in der Gesellschaft, in der das Geschehen um Christi Tod spielt, doch damit hebt er lediglich mit szenischen Mitteln hervor, was Bach in seiner Musik bereits bemerkenswert prägnant verkörpert hat. Inhaltlich eröffnet seine Version keine „neuen“ Erkenntnisse, zumal er weder eine Aufführung von Bachs Passion im rein musikalischen Sinn bietet, noch eine inhaltliche à la Oberammergau. Am Ende der Premiere hob Dirigent Diego Fasolis, dem klanglich eine überzeugende Mischung aus dramatischer Aktion und reflexiver Ergriffenheit gelang, Bachs Partitur in die Höhe und verwies auf sie als „Hauptakteurin“ des Abends – und traf damit vermutlich genau den Kern dieser Aufführung im Opernhaus: Es war eine Johannes-Passion, die nicht nur für das Ohr, sondern auch für das Auge vermittelt wurde. Rasches Bühnengeschehen folgte in jeder Sekunde dem musikalischen Geschehen der Partitur. Ob die Musik das nötig hat, ist eine andere Frage.