Wenn eine renommierte Ballettcompagnie wie das Stuttgarter Ballett ein bestehendes Stück in sein Repertoire übernimmt, ist das durchaus als Ehrung für den Choreographen zu betrachten. Aber dieser Vorgang kann auch eine Ehre für das Ballett bedeuten wie im Fall von Akram Khan. Er hat zwar mit Weltstars wie Kylie Minogue und Juliette Binoche zusammengearbeitet, konzentriert sich aber ansonsten ganz auf seine eigene Truppe und hat bisher nur zwei Ballettensembles eines seiner Stücke anvertraut. Nun erstmals in Deutschland auch eines dem Stuttgarter Ballett, weil er an die Vision glaubt, die dessen Intendant Tamas Detrich für sein Ballett entwickle.
Khan hat sich intensiv mit der indischen Tanztradition auseinandergesetzt, und das ist seinem 2002 entstandenen Ballett Kaash deutlich anzumerken. Die Tänzer sind in lange schwarze Röcke gekleidet, die sie wie exotische Priester wirken lassen, und auch die Bewegungen haben etwas Rituelles an sich: Immer wieder verharren die Tänzer wie in Kontemplation, um dann in aberwitzigem Tempo über die Bühne zu wirbeln. Doch zugleich ist das, was Khan da auf die Bühne bringt, lupenreiner moderner Tanz westlicher Prägung, eine Gratwanderung zwischen den Kulturen.
Das Bühnenbild des indisch-britischen Bildhauers Anish Kapoor beschränkt sich auf ein Bild im Hintergrund – ein schwarzes Rechteck in goldenem Rahmen, umgeben von einem Umfeld, das mal unbeleuchtet bleibt, mal in magisch anziehendem Rot aufglüht.
Zu Beginn, noch während das Publikum den Saal füllt, steht eine Tänzer sinnend vor diesem Bild. Dann nach einem Blackout und einem Fortissimo des Schlagzeugs, das die Musik bestreitet, treten die übrigen Tänzer hinzu. Es bilden sich Szenen von Nähe und Distanz, von kraftvoller Aktivität und meditativer Versenkung. Am Ende ziehen sich die Akteure zurück, es bleibt das Bild, nunmehr von mehreren Personen fasziniert betrachtet – ein Ballett um Religion, Mythologie und die Ausdruckskraft der Körper.
Sehr viel konkreter sind solche inhaltlichen, ja existentiellen Assoziationen in Johan Ingers Out of Breath. Inger ließ sich dazu durch die sehr schwierige Geburt seiner Tochter inspirieren, und so betritt zunächst eine als Mädchen gekleidete Tänzerin mit staksenden Schritten die Bühne wie ein Kleinkind die Welt. Andere „Mädchen“ folgen, man spielt miteinander, es gesellen sich „Jungen“ hinzu, und es entwickelt sich ein heiteres, ausgelassenes Spiel wie unter Kindern, doch tänzerisch hochvirtuos und stets mit ernsten Untertönen. Inger erfand Konstellationen und Figurationen, die unablässig Fragen aufstellen, Fragen nach Zugehörigkeit, nach Nähe, aber auch nach Ausgestoßensein und Distanz.
Eine leicht oval gebogene Mauer dient da sowohl als Ort der plötzlichen unerwarteten Begegnung als auch als Medium der Trennung. Sie ist Gegenstand der Herausforderung, wenn einige Tänzer über diese hohe Mauer klettern, und als Objekt des Scheiterns, wenn es einem von ihnen nicht gelingt. Inger macht deutlich, wie nah Zuneigung und Ablehnung beieinander sein können und wie nah sich das Leben an der Grenze zum Tod bewegt. Das ist atemberaubend bis zur Beklemmung.
Und Atem-Beraubend lautet auch das Stichwort, das diese drei Choreographien im Titel sehr treffend charakterisiert. Am deutlichsten wohl bei Hikarizatto, das Itzik Galili 2004 für das Stuttgarter Ballett kreiert hatte: eine hochartistische, tänzerisch anspruchsvolle „Experimentalanordnung“. Galili, auch für das Bühnenbild zuständig, bringt durch Lichtkegel helle Quadrate auf den Boden, in denen sich das Geschehen meist in Kleingruppen abspielt. Das ist abstrakt und doch voller ernster Themen. So handelt sein Ballett von Symmetrie und Gleichklang. Die Dreiergruppen führen dieselben Bewegungen aus – mit oft einer Ausnahme, und so kippt die Symmetrie stets auch um in Asymmetrie.
Es ist aber auch ein Ballett zum Thema Gleichklang und Variation, denn haben eben noch drei Tänzergruppen dieselben Bewegungen ausgeführt, sind es kurze Zeit später nur noch zwei. Zudem geht es um den Einzelnen und die anderen, um Individualität und Aufgabe derselben. Die Tänzer einer Gruppe verschmelzen geradezu miteinander. Oft kann man kaum ausmachen, wem dieses Bein gehört oder wem jener Arm, und Galili zeigt, dass Aufgabe des Ichs, der Individualität, nicht Verlust bedeuten muss, sondern auch Zugewinn sein kann.
So entsteht ein Werk, das tänzerisch vielleicht das atemberaubendste des ganzen Abends war, eines Abends, an dem das Stuttgarter Ballett brillant seine fulminante, vielgestaltige moderne Seite unter Beweis stellen kann.