Pandemie und Post-Covid: Julian Andersons Chorsymphonie Exiles-Remembrances, Auftragskomposition von London Symphony Orchestra und Chorus, Boston Symphony Orchestra und des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, hatte einen holprigen Start. Ihre Uraufführung, für Januar 2022 in München geplant, wurde dort coronabedingt abgesagt, dann vier Monate später in Berlin beim Deutschen Symphonie-Orchester angesetzt. Nachdem auch dort der vorgesehene Dirigent ausfiel, sprang innerhalb von nur vier Tagen Andris Poga ein. Nun endlich konnte die Erstaufführung beim BRSO in der Isarphilharmonie stattfinden; Manfred Honeck, seit 2008 Music Director des Pittsburgh Symphony Orchestra, stand am Pult.
Der 1967 geborene Julian Anderson wuchs im Londoner Stadtteil Hampstead auf, wo auch viele Exilanten lebten, unter ihnen Elias Canetti, Sigmund Freud oder Oskar Kokoschka. Die weltoffene und kunstaffine Stimmung dieser Gegend habe ihn geprägt, erinnert sich Anderson bei seiner Werkeinführung in München; so fließen, neben leidvollen Texten über Flucht und Vertreibung, auch viele positive Reflexionen in das Werk ein. Er empfinde es gleichsam als Hommage an diese Erfahrungen seiner Jugend.
So beginnt der erste Satz le 3 mai des Fünfteilers mit einem freundlich komponierten „Bonjour“ der Sopransolistin. Dies leitet eine E-Mail ein, worin der marokkanische Komponist Ahmed Essyad in berührenden Zeilen die Frustration seines „internen Exils“ schildert, als ihn die Covid-Welle sein Haus nicht verlassen ließ. Julia Bullocks sensibel geführter Sopran leuchtete solche Gefühlsverwirrungen eindringlich aus. „Dieser Kuss ist rein“: was zuvor poetisch, oft alltäglich war, geriet nun in geradezu verbotene Zonen. Das Orchester mischte sich zunächst nur dezent ein, wird bei „Lockdown“ und „Leere des Blatts“ massiver: fanalartige Schläge im Fortissimo.
Dem folgenden Tsiyon liegen Verse des Psalm 137 (aus dem auch Verdis Va pensiero schöpft) zugrunde: „singen im fremden Land“. Sie verbinden sich mit Texten des Rumänen Horaţiu Rădulescu zu Verbannung, Wehmut, Spuren des Odysseus im Sand. Hier bot das groß besetzte Orchester alle Schattierungen von Klangtupfern bis schrillem Durcheinander, die Solistin höhensicher in Sehnsucht ebenso wie in voluminöser Mittellage, der Chor beschwörend psalmodierend: eine bewegende Collage alter wie aktueller Emotionen in den weltweiten Strömen von Exilanten, die oft tonal blieb und nur in kämpferischen Szenen harmonische Grenzen pointiert übersprang.
Der Chor des Bayerischen Rundfunks (von Peter Dijkstra hervorragend einstudiert), geteilt a cappella im Wechsel mit Julia Bullock, rezitierte im folgenden Satz die Anrufung Gottes aus Psalm 46, als Hommage an den amerikanischen Diplomaten Varian Fry, der 1940 Hunderte Bürger vor den Nationalsozialisten rettete, darunter viele bekannte Namen, die – wie Darius Milhaud, Hannah Arendt oder Marc Chagall – als permanent gemurmelte Klangbasis berührend den Satz unterlegen.
Auf einen dichten Instrumentalsatz, der Fluchtberichte in abstrakter Reaktion beschreiben will, folgt ein auf Psalm 108 basierender Schlusssatz Praise and Farewell, in dem englische, französische und tschechische Dichtungen, teils witzig, surrealistisch oder religiös, sich aus einem choralartigen Beginn verbinden zu einer eingängigen Schlussapotheose: „Dein Schicksal ist Flucht, mein Schicksal ist Gesang“. Ein überaus textmächtiges 40-minütiges Werk, dessen schillernde Vielfalt auch im kompositorischen Detail überzeugte und reichlich Beifall erntete.
Aus einem inneren Exil schrieb Dmitri Schostakowitsch seine Fünfte Symphonie, nachdem Stalin seine Oper Lady Macbeth verdammt und zukünftig Musik für sozialistischen Realismus verlangt hatte. Da seine Familie bereits unter politischem Druck litt, lieferte Schostakowitsch ein Werk, das in weiten Abschnitten die Arbeiter und Bauern ansprechen konnte, trotzdem in doppelbödiger Anlage Mehrdeutigkeit neben Pathos verpackte. Der gezackte Eingangsrhythmus des Moderato kam ebenso eingängig wie bissig-grotesk; im Allegretto-Scherzo versprachen irrlichternde Ländlerklänge Ablenkung und neue Kraft, erinnerten aber ebenso intensiv an grübelnde Melancholie Mahlerscher Kirmesszenen. Honeck betonte im Largo besonders die leidensvolle Note, die mit den Soli von Oboe, Klarinette und Flöte an Schostakowitschs verstummte Musikerfreunde erinnert: Aufbäumen und resignierendes Verlöschen in ein himmlisch leises Harfen-Celesta-Thema. Der siegessichere Elan des Schlussthemas im Allegro zog sich am Ende unnatürlich in die Länge, reizte bewusst mit monotonem Hämmern das Reizempfinden aller gefühlvollen Trommelfelle: ein Jubel unter Drohungen!