Mit den Internationalen Bartók-Frühling-Kunstwochen feiert Müpa Budapest die Kreativität Béla Bartóks sowie den 140. Geburtstag des großen ungarischen Komponisten. Ein vollgepacktes Programm von Kunstveranstaltungen beinhaltet auch neue Werke von drei bedeutenden ungarischen Choreographen und deren Kompanien: Den Anfang macht am 13. Mai die Ballettkompanie Győr mit László Velekeis GisL, einem einaktigen Destillat von Giselle (zu neuer Musik von Félix Lajkó), gefolgt von Balázs Vinczes Premiere der Vasarely-Etüden, getanzt von Ballett Pécs am 15. Mai. Das Festival endet am 24. Mai mit Tamás Juronics‘ von Bartóks Konzert für Orchester inspiriertem Tanztheater, dargeboten von der Zeitgenössischen Tanzkompanie Szeged und der Ungarischen Nationalphilharmonie.
Während der letzten Vorbereitungsphasen dieser Weltpremieren habe ich mit jedem der drei Choreographen gesprochen. Ich begann mit der Frage, was es für sie bedeutete, dass sie ausgewählt wurden, um ein Werk für diese wichtige Veranstaltung zu schaffen. Für Velekei war die zentrale Bedeutung eine Frage ungarischer Kulturgeschichte: „Es ist eine wichtige Wertschätzung der letzten 42 Jahre der Kompanie, dass wir die Stadt Győr repräsentieren und eine so entscheidende Rolle bei einem solch prestigeträchtigen Festival spielen können“, erklärte er. Vinczes Kompanie, Ballett Pécs (der er seit 2005 als Direktor vorsteht), wird zum vierten Mal am Müpa auftreten, und er sieht in dieser beständigen Anerkennung „einer der renommiertesten Institutionen der ungarischen Kunstszene das Schaffen neuen Publikums für die Arbeit der Kompanie“. Seine Karriere als Tanzschaffender begann durch Zufall. Er arbeitete eigentlich im Musiktheater und sprang, vor etwa 15 Jahren, lediglich für einen ausgefallenen Gastchoreographen ein, um eine Produktion von Bonnie & Clyde zu choreographieren. Seitdem hat er in ganz Ungarn an Musicals, Operetten und Opern gearbeitet.
Juronics – der die Zeitgenössische Tanzkompanie Szeged seit 1991 leitet – gestand, er sei „von seinen Gefühlen übermannt“ worden. Auch im Falle dieser Kompanie führen die Internationalen Bartók-Frühling-Kunstwochen eine bereits bestehende, starke Verbindung fort. „Wir waren die erste ‚Kompanie des Jahres‘ am Müpa“, erklärte der Choreograph. „Es war eine Freude, mit Zoltán Kocsis – ehemaliger Musikdirektor des Ungarischen Nationalen Philharmonischen Orchesters und weltberühmter Dirigent – für drei großartige Stücke zusammenzuarbeiten. Ich bin sehr glücklich, dass unsere Beziehung mit dem Orchester jetzt durch diese Einladung, für den Bartók-Frühling zu choreographieren, wieder aufgefrischt wird.“ Bartóks Musik hat in Juronics’ Karriere eine große Rolle gespielt: „Sie hat mich als junger Künstler immer berührt, und ich habe Gelegenheit gehabt, viele seiner Stücke zu choreographieren, was ein wichtiger Bestandteil meiner Karriere war.“
Ich bat alle Choreographen, ihre Arbeit für die Internationalen Bartók-Frühling-Kunstwochen zu beschreiben und etwas zu ihrer choreographischen Vorgehensweise zu sagen. László Velekei machte den Anfang und erläuterte, dass seine Choreographiepraxis getragen wird von einer Mischung aus klassischem Ballett und lateinamerikanischem Tanz. Seine Inspiration für einen neuen Blick auf Giselle war „das Bild, dass sie zu Tode getanzt wird“. Er versuchte, diesem Meisterwerk des romantischen Balletts des 19. Jahrhunderts, das er als “Traum jeder Ballerina” beschrieb, neues Leben einzuhauchen. Velekei reizte der Prozess des Choreographierens in enger Verbindung mit der Entstehung von Lajkós neuer Musik: „Wir waren von Anfang an auf einer Wellenlänge.“
Balázs Vinczes Werk Vasarely-Etüden wurde ausgewählt, um der führenden Persönlichkeit der Op-Art-Bewegung, Victor Vasarely (geboren in Pécs als Győző Vásárhelyi) zu gedenken, was sowohl das 45. Jubiläum der Vasarely-Stiftung in Pécs‘ Partnerstadt Aix-en-Provence sowie 60 Jahre seit der Gründung des Balletts Pécs repräsentiert. „Tanz und bildende Kunst inspirieren sich gegenseitig“, so der Choreograph, dessen expressives Tanztheater zeitgenössische Fertigkeiten nutzt, die auf solider klassischer Technik aufbauen. „Also haben wir beschlossen, unser 60-jähriges Jubiläum mit einem Ballett zu feiern, das von zehn Werken des Vasarely-Museums in Pécs motiviert wurde, und bei dem die Kunst die Musik und Atmosphäre jeder einzelnen Szene inspiriert.“ Dies ist das erste Mal in seiner ausgedehnten Karriere, dass Vinczes Inspiration außerhalb von Musik liegt. „Alles – Musik (komponiert von Richárd Riederauer), Tanz, Kulissen und Kostüme – hat seinen Ursprung in Vasarelys eindrucksstarken Meisterwerken. Ich war überrascht, wie lebendig, kraftvoll und energiegeladen seine Werke noch immer sind. Irgendwie haben mich die Werke regelrecht eingesogen und erwachten dann zum Leben. Sie bestimmten Rhythmus, Schritte und Szenen. Ich fühlte mich, als wäre ich in Vasarelys Werke eingetaucht, und ich bin ehrlich dankbar für diese Begegnung.“
Tamás Juronics’ neues Werk ist das einzige, das einen direkten Bezug zu Bartók aufweist. Der Choreograph erläuterte, dass es sich um die Situation und den Gemütszustand des Komponisten zu der Zeit dreht, in der er das Konzert für Orchester komponierte, 1943, in den USA. „Seine Krankheit, die unfreiwillige Abwesenheit aus Ungarn und das damit verbundene Heimweh, seine Sorge um Europa und der sich ausbreitende Faschismus trugen alle zu der kreativen Blockade bei, die Bartók drei Jahre lang hinderte, ein neues Werk zu schreiben. Er trug Sorge, dass er nie wieder komponieren könne”, so Juronics. Er spricht in seinem Werk die persönlichen Umstände des Komponisten direkt an und schuf allegorische Figuren, die die Bilder von Heimat und Heimweh, die Schrecken des Krieges, die Hässlichkeit der Welt sowie die Qual und Schönheit des kreativen Prozesses darstellen. Einer der Tänzer repräsentiert Bartók, maskiert und in einem Krankenbett liegend, umgeben von seinen Träumen und Gedanken. „Das Komponieren wurde für Bartók zur Therapie, und als er das Konzert fertiggestellt hatte, konnte er das Krankenhaus verlassen“, beschrieb Juronics.
Und wie empfanden die Choreographen es, ein neues Werk für ein online- anstelle eines live-Publikums zu erarbeiten? Velekei spürte deutlich den Verlust von Interaktion. „Wir haben den Kontakt mit unserem Publikum verloren, was die grundlegendste Inspiration für Tänzer ist.“ Er wies auch umgehend darauf hin, dass die Rolle der Aufnahmetechniker zu einem zusätzlichen kreativen Bestandteil der Produktion wird. „Durch ihre Augen wird das Stück neu geformt, und wir müssen Schnittstellen finden, wo wir von einem gemeinsamen Blickpunkt aus auf das Werk sehen. Es ist eine intime, komplexe Aufgabe, die Feingefühl verlangt, aber ich bin überzeugt, dass es perfekt funktionieren wird!“ Vincze stimmte zu, dass technische Elemente wie Beleuchtung und Szenenwechsel angepasst werden müssen, doch er bestätigte, dass die Vasarely-Etüden als Bühnenwerk konzipiert worden waren und sich leicht für ein live-Publikum adaptieren lassen.
Juronics gab zu, dass es „eine Herausforderung war, unter all den Corona-Vorschriften zu proben, und dass auch die Ungewissheit bezüglich der Abwesenheit des live-Publikums schwierig war“. Velekeis erstes Jahr als Direktor der Ballettkompanie Győr überschnitt sich mit der Pandemie, so war er von vornherein gezwungen gewesen, online zu konzipieren. „Ich kann mich nicht beklagen, denn wir haben alle Ziele, die wir uns gesetzt haben, seit ich Direktor geworden bin, erreicht. Wir haben geschafft, Veranstaltungen unter freiem Himmel abzuhalten, einschließlich Anna Karenina in Szarvas, und die Produktion gewann Preise für die Beste Vorstellung und Beste Choreographie. Wir konnten aus unseren Schwierigkeiten günstige Gelegenheiten machen, und – das ist am wichtigsten – alle Mitglieder der Kompanie sind gesund geblieben.“
Vincze bestätigte, dass das Ballett Pécs seine Studioroutine auch durch Lockdownzeiten hindurch beibehalten hat, wenngleich er zugab, dass „der Mangel an live-Vorstellungen in einem Theater mental schon schwierig war. Zum Glück sind wir eine kleine Kompanie von nur 20 Tänzern, und so haben wir einander unsere Aufmerksamkeit geschenkt, wie eine kleine Familie.“ Juronics hat gelernt, Verzweiflung zu einer Gelegenheit zu machen, als die dritte Welle des Coronavirus begann. „Wir steckten mitten in den Proben“, erklärte er, “und ich hatte zu der Zeit eine kleine Krise, weil ich nicht wusste, wann das Werk (Blue) aufgeführt werden können würde. Aber mir wurde bald klar, was für ein Geschenk es ist, mehr Zeit zu haben, und es war gut, die seltene Gelegenheit zu bekommen, vor der Premiere weiter an einem Stück zu arbeiten.“
Alle drei Tanzensembles haben einen sehr guten internationalen Ruf, arbeiten sowohl mit ungarischen als auch internationalen Choreographen zusammen und treten (vor der Pandemie) regelmäßig auch außerhalb Ungarns und Europas auf. Der britische Choreograph Cameron McMillan schuf Speak to Me für das Ballett Pécs, und Vincze erwähnte, dass er es grundlegend für wichtig erachtet, seine Tänzer mit neuen Ideen in Berührung zu bringen. „Ich freue mich immer, wenn diese Künstler unsere Tänzer loben. Das zeigt uns, dass wir unsere Arbeit gut machen.” Die Zeitgenössische Tanzkompanie Szeged hat bis dato mit 27 Gastchoreographen zusammengearbeitet, und Enrico Morelli feilt derzeit an seinem fünften Stück für die Kompanie. Juronics sieht die Rolle dieser Kompanien als „Kulturdiplomaten“ für Ungarn. Und, sagte er stolz, „wo wir auch hingehen, wir haben immer Erfolg.“
Die Internationalen Bartók-Frühling-Kunstwochen feiern eine der bedeutendsten Figuren in Ungarns vielseitiger kultureller Geschichte, doch das Festival, das Müpa gerne zu einer regelmäßigen Angelegenheit von regionaler wie internationaler Bedeutung machen möchte, schaut zuversichtlich in die Zukunft durch alle Kunstformen. In diesem Jahr bietet es hierbei eine Plattform, um neue Werke dieser drei erfahrenen ungarischen Choreographen und ihrer ausdrucksstarken Kompanien zu zeigen.
Dieser Artikel entstand im Auftrag von Wavemaker Hungary.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.