Ein Fotograph, der sich auf Neugeborenenfotos spezialisiert, hat auf seinem Mobiltelefon eine Geräuschapp, um das abzulichtende Baby mit den Klängen eines Staubsaugers zu beruhigen. Doch als er die für den neugeborenen Sohn von Barnabás Kelemen und Katalin Kokas anschaltete, wirkte das überhaupt nicht. Sie versuchten es mit gewöhnlichen Wiegenliedern – wieder nichts. Also sagte Kokas, die Bratschistin des kürzlich wiedergegründeten Kelemen Streichquartettes ist, im Spaß: „Spielen wir doch Bartóks Viertes Quartett über das Handy“, und beide lachten. Es war eine so verrückte Idee, denn Bartóks Viertes Quartett ist sehr schnell und, so Kokas, „ziemlich drastisch. Aber nach ein paar Sekunden hörte er einfach zu und bekam große Augen. Und innerhalb einiger Minuten fielen ihm die Augen zu und er schlief ruhig und lange.“
Barnabás Kelemen und Katalin Kokas führten dieses Interview mit mir aus Kroatien, wo sie im Urlaub waren und ein altes Boot herrichteten, mit ihren Kindern als Crew: Hanna, die Älteste, hatte erst die Hauptrolle in der Premiere eines Livestreams von Romeo und Julia gespielt, der auf einer Produktion eines der zentralen Theater in Budapest basierte. Der 13-jährige Gáspár wird mit einem von Wienawskis Violinkonzerten auftreten, sobald die Corona-Regelungen gelockert werden. Olga hat gerade erst ihren vierten Geburtstag gefeiert, und Zsigmond, der in einem viralen Video zum Star wurde, ist nun sieben Wochen alt. Ich habe das Kelemen Quartett in der alten Besetzung in Kaposvár, Budapest und Lockenhaus gehört, und meine erste Frage war, wie es zur Neugründung kam. Welche Herausforderungen stellt Bartók, und womit wird man als Musiker in seiner Musik belohnt? Und wie gefällt den beiden die neue Technologie? Ihr Gespräch mit mir war einzigartig kollaborativ, wie Streichquartettspieler es nun mal sein müssen, um den Ansprüchen ihres enorm kollaborativen Repertoires zu genügen.
“Wir haben immer unsere Augen für potenzielle neue Mitglieder offengehalten“, erklärte Kelemen. „2016 bin ich bei einem örtlichen Hausfestival eingesprungen und habe mit Alexander Lonquich Bartóks Erste Sonate gespielt. Zufällig saß der großartige albanisch-griechische Violinist Jonian Ilias Kadesha im Publikum und erinnerte sich sehr gut daran, als ich ihn und seine Verlobte hinterher fragte, ob wir nicht ein paar Quartette zusammen spielen wollten.“ „Mir war nicht klar”, fügte Kokas hinzu, „dass wir die ganze Zeit neben unseren zukünftigen Quartettmitgliedern gesessen hatten; das fiel mir erst auf, als wir schon einen Monat zusammen geprobt hatten und ich zufällig das Video ansah, das ich davon gemacht hatte.“
„Aber als wir uns letztes Jahr beim Kammermusikfest Lockenhaus trafen“, fuhr Barnabás Kelemen fort, „hatten wir noch immer nicht zusammen gespielt. Ich wusste, dass Kadeshas Verlobte, die englische Cellistin Vashti Hunter, eine wirklich großartige Künstlerin war, dass sie zehn Jahre lang zusammen im Trio Gaspard gespielt hatten, und dass sie offiziell seit über sieben Jahren ein Paar waren. Das bedeutete, dass sie sich persönlich, als Streichinstrumentalisten und musikalisch sehr, sehr gut kannten und verbunden waren. Beide hatten den Gedanken, dass sie sich eines Tages an einem Streichquartett versuchen sollten – und besonders einem von Bartóks Quartetten, denn die sind für Streicher ziemlich unglaublich.“
Außerdem sprachen die vier „die gleiche Sprache”, so Kelemen, „denn wir haben alle mit denselben Meistern gearbeitet. Allen voran Ferenc Rados, dann zwei großartigen Leitern von Streichquartetten, Gábor Takács-Nagy und András Keller, und András Schiff. Diese Dinge fallen sehr ins Gewicht.“ Barnabás Kelemen begann sein Studium bei Rados an der Liszt-Akademie mit 14 Jahren. Katalin Kokas studierte in Budapest ebenfalls viele Jahre bei Rados, während Vashti Hunter und Jonian Ilias Kadesha die letzten 10 Jahre beim Internationalen Musikerseminar (das übrigens von einem weiteren großen, ungarischen Violinisten, Sándor Végh, gegründet wurde) im kornischen Prussia Cove bei dem hochgeschätzten Kammermusiklehrer studierten.
Kelemen und Kokas kannten die Kodály-CD, die Kadesha und Hunter aufgenommen hatten. „Jonian spielt organisch, in Symbiose mit seinen musikalischen Wurzeln“, erzählte mir Kelemen. „Und wenn wir denken, dass eine englische Cellistin kein Verständnis für Bartók haben würde, weil die englische oder schottische oder irische Volksmusik keine Verbindungen zu ungarischer Musik zu haben scheint, dann liegen wir falsch. Vashti verstand die Akzentuierungen und Artikulationen, die die ungarische Musik verlangt. Sie hat bewiesen, dass das keinesfalls unmöglich ist, wenn jemand sich die Volkslieder und Musik authentischer Musiker anhört, wenn jemand ein bisschen Gespür dafür hat, wenn er unsere Art zu sprechen erfühlen will. Bartóks Musik ist absolut universal.“ Kokas erläuterte die Universalität von Sprachen mit einer Geschichte über ein vierjähriges Mädchen aus Transsylvanien, das aus dem Rumänischen ins Ungarische und zurück übersetzen konnte. „Die Dame, für die das Kind übersetzte, fragte: ‚Wie kann es sein, dass du so jung bist und schon zwei Sprachen sprechen kannst, und auch noch so unglaublich gut?‘ Das kleine Mädchen antwortete: ‚Es ist doch eigentlich eine Sprache; es gibt nur für alles zwei verschiedene Wörter.‘“
Und so überlegten die vier, sich im Januar und Februar für Konzerte im Rahmen der Budapester Festivalakademie zusammenzutun. Doch als Kelemen das gegenüber Gőz László, dem Direktor des Budapester Musikzentrums, erwähnte, erinnerte sich László daran, dass Kelemen und Kokas vor vielen Jahren einmal einen Bartók-Zyklus vorgeschlagen hatten und sagte: „In Ordnung; warum machen wir das nicht beim Auftakt der Internationalen Bartók-Frühling-Kunstwochen im Mai?“ „Sehr komisch“, war Kelemens erste Reaktion. Mit zwei neuen Mitgliedern konnte man das auf keinen Fall so schnell umsetzen. Doch Kokas sagte: „Sag niemals nie. Lass uns darüber nachdenken.“
Das war im Dezember. Ein paar Tage später kamen Kadesha und Hunter, die Corona-bedingt frei waren, aus Berlin an und begannen mit dem Vierten Quartett. „Wir haben gespielt und gespielt“, erzählte mir Barnabás Kelemen. „Wir haben kaum miteinander gesprochen; wir haben das einfach genossen und großen Spaß dabei gehabt.“ Und bald zogen Hunter und Kadesha nach Budapest. „Sie hatten das Stück komplett erarbeitet“, sagte Kokas, „sie kannten es praktisch in- und auswendig. Und sie hatten viele, viele Ideen, selbst für die winzigsten Details. Was wir in unseren zehn Jahren im Quartett gelernt haben ist, dass man vier Leute braucht, die technisch auf einer Ebene sind und auch musikalisch ähnliche Meinungen haben. Aber am wichtigsten ist, dass wir alle die gleiche Besessenheit gegenüber unserer Arbeit aufweisen, dass die Musik kein Ende hat, und dass die Proben so lange dauern, wie sie Spaß machen und es etwas zu lachen gibt.“
„Wir hatten die außergewöhnliche Ehre“, fügte Kelemen hinzu, „so viele aufregende Unterrichtsstunden mit Herrn Rados und einem weiteren Giganten der ungarischen Musik, György Kurtág, zu haben, während derer wir alle sechs Quartette für sie gespielt haben.“ Den Arbeitsprozess können Sie sich in einer spontanen, experimentellen Probe des Fünften Quartettes im Rahmen einer brillanten Kurzdokumentation auf der Webseite des Quartettes ansehen.
Es war eine Menge Arbeit. Kokas, zu diesem Zeitpunkt im achten Monat schwanger, beschrieb, wie sie sechs bis acht Stunden täglich probten und die Musik dann bis in die frühen Morgenstunden weiter diskutierten. Und so erarbeiteten sie alle sechs Quartette. Für Kokas war das auch musikalische eine neue Herausforderung. Sie hatte die sechs Quartette schon oft gespielt, sogar an nur einem Abend (mit zwei Pausen) – als zweite Violinistin. Den Bratschenpart hatte sie jedoch lediglich im fünften gespielt. „Als wir darüber sprachen, uns zu einem Quartett zusammenzuschließen, hatte Jonian angeboten, gelegentlich die Bratsche zu spielen, aber er würde nicht mit den Bartóks beginnen.“ Nachdem sie „dieses sehr freundliche, fantastische und sehr verrückte Angebot“ für das neugefasste Kelemen Quartett angenommen hatten, sein Debüt mit einem Livestream aller Bartók-Quartette zu machen, nahmen die vier Musiker den Zyklus auch für Radioausstrahlungen auf, die nach den Konzerten des Bartók-Frühlings verfügbar sein werden.
Für Musiker, die es bereits gewohnt waren, CDs im Studio aufzunehmen, wo sie sich die Atmosphäre und das Gefühl eines Konzertsaals „aus dem Ärmel schütteln“ mussten, war es nicht wirklich anders, in einem leeren Saal zu spielen, bis ihnen die Bedeutung des Publikums auf der anderen Seite der Internetverbindung bewusst wurde. „Dann haben wir es wirklich genossen“, so Kelemen, „denn wir haben mit unserer Musik wieder alles gegeben, und zwar den Leuten, die es interessiert.“ Die Konzerte im Rahmen der Festivalakademie in Budapest streamten sie kostenfrei und ernteten dafür 30.000 Downloads.
Für Katalin Kokas waren Konzerte im Livestream „die Rettung. Vor Corona waren unsere Ziele gewesen, Musik zu machen, immer auf etwas hinzuarbeiten und auf der Bühne zu stehen. Und unsere Kinder hatten sich an unsere Obsession gewöhnt, die wir immer versucht haben, in guter Balance mit unserem Privatleben zu halten. Aber als ich mich in einer neuen Welt wiederfand, in der die Kinder sich allein Frühstück und selbständig ihre Hausaufgaben machten und mich nicht brauchten und es auch keine Livemusik gab, verlor ich diese Ziele aus den Augen; ich vergaß, wer ich war. Als wir begannen, diese Konzerte in neuer Gestalt zu spielen, veränderte sich mein ganzes Leben wieder, weil wir diese neuen Musiker gefunden hatten, mit denen und für die wir spielen. Und trotzdem vermissen das Publikum unheimlich.“
Dieser Artikel entstand im Auftrag von Wavemaker Hungary.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.