Neue Stimmen, ein Gesangswettbewerb der Bertelsmann Stiftung, kann auf eine über dreißigjährige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Alle zwei Jahre kürt eine hochkarätige Jury aus Opern- und Festivaldirektoren die besten Nachwuchssängerinnen und Nachwuchssänger, und Namen wie René Pape, Marina Rebeka und Franco Fagioli stehen stellvertretend für viele internationalen Karrieren, an denen Neue Stimmen beteiligt war. Global – und für einen Wettbewerb dieser Größenordnung einzigartig – ist bei Neue Stimmen aber auch die Suche nach Talenten. Für die diesjährige Endrunde, die mit 45 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vom 19. bis 27. Oktober in Gütersloh ausgetragen wird, waren 1427 Bewerbungen zu bearbeiten, und dafür wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Die Vorrunde wurde in 25 Städten weltweit und unter persönlicher Anwesenheit von Jury-Mitgliedern abgehalten. Im Gegensatz zu den meisten Gesangswettbewerben ist man bei Neue Stimmen überzeugt, dass keine DVD den persönlichen Eindruck beim Vorsingen Wert ersetzen kann.
Das ist auch die Sichtweise von Sophie Joyce Paterson, die in diesem Jahr erstmals Jurorin für Neue Stimmen ist, allerdings hat sie bereits einiges an Jury-Erfahrung, etwa für die Metropolitan Opera National Council Auditions. Sie begann ihre Karriere bei IMG Artists, wo sie mit einigen der hochkarätigsten Opernsänger unserer Zeit zusammengearbeitet hat. Wenig überraschend entwickelte sie eine Leidenschaft für Stimmen („Einmal Opernvirus, immer Opernvirus!”) und arbeitete in der Folge zehn Jahre für die English National Opera, unter anderem als Head of Casting. Seit 2018 leitet sie das Lindemann Young Artist Development Program der Metropolitan Opera.
Die Wiener Staatsoper, deren Direktor Dominique Meyer den Jury Vorsitz von Neue Stimmen innehat, ist ihre zehnte und letzte Station auf ihrer Tour durch Nordamerika und Europa. Begeistert erzählt sie: „Diese jungen Gesangstalente zu beobachten ist eine unglaubliche Erfahrung, einfach faszinierend! Sie aufzuspüren ist eines der wichtigsten Dinge in diesem Geschäft. Das klingt simpel, aber es muss passieren, sonst hören wir eben keine neuen Stimmen.” Gleichzeitig betont sie, wie wichtig es ist, die jungen Künstler auch praktisch zu unterstützen. „Eines der großartigen Dinge an Neue Stimmen ist die Zusammensetzung der Jury. Diese Leute haben die Jobs für junge Sänger”, und tatsächlich stehen ehemalige Gewinner an der Wiener Staatsoper und vielen anderen Häusern unter Vertrag. Allerdings bietet Neue Stimmen noch wesentlich mehr: Von langfristigen Ausbildungsmöglichkeiten und Konzerteinladungen profitieren nämlich nicht nur Preisträger, sondern auch andere Talente, die man im Auge behalten will – und diese Liste ist stolze 100 Namen lang. Zudem hat Neue Stimmen in den über dreißig Jahren seines Bestehens wertvolle internationale Kontakte aufgebaut, ein Karrierenetzwerk im besten Sinn.
Zunächst geht es aber für den Nachwuchs darum, in die engere Wahl zu kommen. „Wenn ich einen Sänger oder eine Sängerin höre, folge ich einem Schema. Wie finde ich den Klang der Stimme im Allgemeinen? Wie steht es mit der Technik – meine ich, dass die Person diese Leistung immer wieder bringen kann? Was macht sie stilistisch? Und natürlich zählt auch die Persönlichkeit als Künstler. Diese vier Kategorien beurteilen wir bei Neue Stimmen mit einem Punktesystem, es ist alles sehr transparent. Die jungen Sänger bekommen dieses Feedback, um ihre Leistung einordnen zu können.” Joyce Paterson räumt aber ein, dass es persönliche Präferenzen gibt. „Mir ist stimmliches Charisma wichtig, ein glamouröser Klang. Hat die Sängerin oder der Sänger etwas zu sagen? Berührt mich diese Stimme?” Darüber können auch befreundete Opernfans recht unterschiedlicher Meinung sein, und man kann sich lebhaft vorstellen, dass das in einer Jury nicht anders ist. „Ehrlich gesagt bin ich immer wieder überrascht, wie oft wir einer Meinung sind, wenn es um die Beurteilung von Sängern geht. Aber natürlich haben wir Diskussionen. Wenn mir jemand besser gefällt als meinen Kollegen (oder umgekehrt), verständigen wir uns über die Differenzen, indem wir Vergleiche zu jemandem ziehen, bei dem wir uns einig waren.”
Weltweit gibt es so viele gut ausgebildete Sänger wie nie zuvor; theoretisch sollte die große Konkurrenz nicht nur den Druck auf die Sänger erhöhen, sondern auch das allgemeine Niveau. Trotzdem gibt es Opernfans, die immer noch von den „guten alten Zeiten” träumen, und von den heutigen Sängern nicht sonderlich begeistert scheinen. Diese Meinung kann Joyce Paterson natürlich nicht teilen: „Ich gehöre zu jenen, die meinen, dass wir viele fantastische Sängerinnen und Sänger haben; ich glaube nicht, dass wir eine Sängerkrise haben!”, lacht sie, bevor sie wieder einen ernsteren Ton anschlägt. „Heutzutage gibt es viele Elemente, die einen Opernstar ausmachen, es ist ein Gesamtpaket. Man sollte eine unglaubliche Stimme haben, Sprachen beherrschen, und einen klugen Umgang mit der Öffentlichkeit und Social Media pflegen; dazu kommt noch, dass wir in Zeiten von Kino-Übertragungen in HD leben. Man muss auf der Bühne eine tolle Persönlichkeit vermitteln, aber auch abseits davon – das Publikum sollte sich auch für die Person selbst interessieren. Natürlich ist das viel verlangt, hunderte solcher Leute kann es nicht geben!”
Klar ist auch, dass man in der Regel nicht als Kinostar beginnt. Junge Sänger arbeiten in der Regel zunächst an kleineren Häusern und müssen sich auch mit weniger glamourösen Jobs begnügen, beispielsweise mit fragwürdigen Inszenierungen klarkommen. „Wenn wir Wettbewerbsteilnehmer ansehen, kommt auch der Punkt an dem wir uns fragen, wie flexibel jemand ist. Flexibilität, sich verschiedenen Stilrichtungen anzupassen, ist heutzutage sehr wichtig in dieser Branche. Aber ich frage mich auch ,Was macht sie oder ihn einprägsam?’. Und letztendlich läuft es wieder auf die Stimme hinaus, die Fähigkeit, Emotionen durch die Stimme auszudrücken.”
Eine solche Stimme zu entwickeln kann allerdings ein recht langfristiges Projekt sein, speziell wenn es um potenziell große Stimmen für Wagner, Strauss oder Verdi geht. Diese Sänger müssen schließlich ihren Lebensunterhalt auch dann verdienen, wenn sie noch nicht reif für dieses Fach sind. „Bei Neue Stimmen gibt es Repertoire, das Nachwuchssänger mit dramatischen Stimmen singen können, allerdings müssen sie das nicht einmal, um ihr Potenzial an diesem Punkt in ihrer Entwicklung zu zeigen”, ist Joyce Paterson überzeugt. „Nur weil jemand vielleicht jene Person ist, die mit vierzig Jahren, an ihrem stimmlichen Höhepunkt, große dramatische Partien singen kann, muss das nicht heißen, dass er oder sie mit 25 oder 28 nichts vorzuweisen hat. Ich denke daher, dass wir auch diesen Leuten die Möglichkeit geben, ihr Potenzial zu hören, und sogar zu gewinnen. Sie brauchen ihrer Zeit nicht voraus zu sein. Was man jetzt kann, zählt.”
Das ist ein wertvoller Ratschlag von jemandem, der es wissen muss, und gern teilt sie noch mehr Insider-Wissen: „Technische Sicherheit und kluge Repertoirewahl sind unabdingbar, weil man in dem, was man tut, sicher sein muss. Ich ermutige junge Talente grundsätzlich, sich selbst kennenzulernen und ehrlich zu sich selbst zu sein. Zusätzlich sollten sie jemanden finden, dem sie absolut vertrauen, und um ehrlichen Rat fragen können. Und diesen sollten sie auch akzeptieren, auch wenn er ihnen nicht gefällt, etwa ,Du bist noch nicht bereit für diese Partie!’. Denn der Weg, auf dem man seine Stimme aufs Spiel setzt, kann zu einer Sackgasse ohne Umkehrmöglichkeit werden. Die besten Sänger heutzutage lernen immer noch dazu und hören nicht auf, an ihrer Kunst zu arbeiten. Der Terminkalender ist natürlich auch ein wichtiger Faktor, hier braucht es eine Partnerschaft zwischen Sänger und Manager. Auch dabei ist Sicherheit wichtig. Manchen Sängern fällt es schwer, nein zu sagen, weil sie fürchten, es könnte ihrer Karriere schaden. Pavarotti meinte einmal, er hätte seine Karriere mit Nein-Sagen gemacht.” Angesichts der globalen Konkurrenz ist Nein-Sagen wohl einfacher gesagt als getan, aber Ratschläge wie diese zeigen, wie wichtig Neue Stimmen eine langfristige Zusammenarbeit ist – hier werden Talente behutsam gefördert und gefordert.
Diese kommen aus allen Teilen der Welt, aber auch in Zeiten der Globalisierung gibt es anscheinend noch ein paar kulturelle Unterschiede. „Ich war für Neue Stimmen in drei nordamerikanischen und sieben europäischen Städten unterwegs, und mir fällt auf, dass die amerikanischen Gesangslehrer ihre Studenten intensiv auf das Vorsingen hintrainieren. Natürlich verallgemeinere ich hier ein bisschen, aber die Amerikaner sind sehr gut vorbereitet, haben sich vom Outfit bis zur Bewerbungsmappe alles detailliert überlegt, und auch das gehört zu einem Auftritt, man erwartet das mittlerweile. Die Vorrunden in Asien wurden von meinen Jury-Kollegen betreut, aber es ist kein Geheimnis, dass es viele fantastische Sänger in Südkorea gibt. Die Ausbildung dort muss wirklich gut sein.”
Wie immer formuliert Joyce Paterson positiv, aber ist ihr Beruf tatsächlich jeden Tag spannend? Wird es nicht manchmal langweilig, Standard-Repertoire immer wieder zu hören, etwa das fünfzigste „Lunge da lei“ der Saison? Die Antwort darauf ist ein verblüfftes und bestimmtes „Nein!” (Dieser Gedanke kam ihr anscheinend tatsächlich noch nie.) „Wenn es jemand gut singt, ist es toll und gibt einem viel Energie. Jedes Mal, wenn jemand so eine Arie ankündigt, denkt man, ,Das könnte es sein!’. Aber ja, Moden gibt es tatsächlich. In einem Jahr hört man eine bestimmte Arie sehr oft, im nächsten Jahr dann wiederum gar nicht.” Das macht mich neugierig – welche Trends haben sich denn in den diesjährigen Vorrunden von Neue Stimmen abgezeichnet, gab es Überraschungen? „Meinen Jury-Kollegen zufolge gab es letztes Jahr viele Mezzosoprane, aber dieses Jahr waren wirklich viele fantastische Soprane dabei. Es gibt immer viele Sopranistinnen, aber nicht unbedingt großartige.” Das sind erfreulichen Nachrichten, und vielleicht werden wir bald eine neue Primadonna erleben… Sophie Joyce Paterson macht jedenfalls Lust darauf, Neue Stimmen zu hören.
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Diese Interview wurde gesponsert von Neue Stimmen.