Jedes klassische Musikfestival besitzt eine eigene Persönlichkeit, doch das finnische Kammermusikfestival Kuhmo ist eines der ungewöhnlichsten. Es hebt sich von anderen durch seinen entlegenen Veranstaltungsort (am 64. Breitengrad nicht weit vom Polarkreis entfernt), die Größe des Festivals im Vergleich zur Größe der Stadt (2022 werden 120 Musiker über 60 Konzerte spielen, in einer Stadt mit 8.027 Einwohnern), und der Komplexität des Programms, das von den beliebtesten klassischen Melodien bis hin zu Stücken reicht, die nur eine Handvoll Besucher kennen werden.
Vladimir Mendelssohn, der seit 2005 allseits beliebter Intendant des Festivals war, starb im August 2021 kurz nach dem Ende des Festivals. Die Geschäftsführung beschloss, „innerhalb der Familie” nach einem Nachfolger zu suchen. So erhielten die beiden Violinisten Minna Pensola und Antti Tikkanen, die beide schon seit vor Mendelssohns Zeit in Kuhmo aufgetreten, jeweils eine „streng geheime“ Emailanfrage, ob sie Interesse hätten, die künstlerische Leitung des Festivals zu übernehmen. Da Pensola und Tikkanen miteinander verheiratet sind, war es gut, dass das Postskriptum der Emails besagte, dass sie den Inhalt der Nachrichten „miteinander, doch niemandem sonst“ besprechen dürften. Sie beschlossen, sich gemeinsam für den Posten zu bewerben: „Es ist einfach unmöglich, den Fluss an Ideen und Inspiration, den wir voneinander beziehen, irgendwie zu trennen“, erklärt Pensola. „Wir haben schon immer das Bedürfnis geteilt, Gedanken einfach laut und ungefiltert auszusprechen und mit dem anderen auszuprobieren. Das allein zu machen hätte sich darum so angefühlt, als hätte man weniger Ressourcen.“
Das Festival wurde wegen Covid-19 2020 komplett abgesagt und fand 2021 mit großen Veränderungen statt. Bei so vielen Einschränkungen und Vorgaben konnte Mendelssohn nicht einfach eine beschnittene Version seines 2020-Programmes produzieren. „Er konnte es einfach nicht reduzieren“, so Pensola, „er konnte seine Lieblinge nicht töten. Also schuf er am Ende ein komplett neues Programm für 2021.“ Das Programm für 2022 wird eine Wiedergeburt dessen, was Mendelssohn für 2020 geplant hatte – natürlich reduziert und verändert, zum Teil, weil die Covid-Beschränkungen noch immer gelten, und zum Teil, weil sich in der Welt viel getan hat seit diese ursprünglichen Pläne entstanden sind. „Man muss bedenken, dass dieses Programm überwiegend 2019 ausgewählt worden ist. Es ist nicht nur die Pandemie, die die Kunstwelt dazu gezwungen hat, kreativer zu sein und vielleicht auch alte Gewohnheiten zu hinterfragen. In diese drei Jahre fallen auch die Bewegungen von Black Lives Matter und #MeToo.“ Es wird noch bis 2023 dauern, bis wir ein Festival sehen, das gänzlich von dem Paar kuratiert wurde, doch 2022, erklärt Tikkanen, „bekamen wir eine erste Chance, weil ursprünglich Stücke auf dem Programm standen, die so nicht möglich waren, weil sie beispielsweise zu viele Instrumentalisten oder einen Chor beinhalteten. Es gab also einige Stellen, die etwas Kreativität verlangten, und die jetzt unsere Handschrift tragen.“ Ein Beispiel hierfür ist ein Konzert mit dem Titel „Superhelden“ mit einem Klaviertrio von Rebecca Clarke, einer Komponistin, die gezwungen war, ihre besten Werke unter einem männlichen Pseudonym zu veröffentlichen, was dadurch perfekt zum Thema des Festivals „Illusion“ passt.
Außerdem, so Tikkanen, war Mendelssohn nicht das einzige wandelnde Lexikon der Kuhmo-Familie, und es gibt noch weitere Menschen, bei denen sie sich Hilfe holen können. Das Beste daran, Mendelssohns Nachfolger zu werden, ist, sich in die Art hineinzudenken, wie er Programme zusammengestellt hat (nämlich, dass jedes Werk im Konzert mit jedem anderen sowie dem Jahresmotto verbunden ist) und sich dann an die Recherche zu machen. Tikkanen gibt als Beispiel an, dass sie bei der Planung eines Programmes, das die Brahms-Ballade und davon abgeleitete Werke beinhaltete, auf ein Stück des zeitgenössischen, finnischen Komponisten Sebastian Fagerlund stießen, das das gleiche Material zitiert. Viel Repertoire kommt auch von den Künstlern: „als wir wussten, wer kommen würde, konnten die Künstler sehr persönliche Stücke mit starker Verbindung zu Vladi vorschlagen.“
Ein weiteres Kennzeichen des Festivals ist die schiere logistische Komplexität mit so vielen Musikern in verschiedensten Konstellationen innerhalb eines Tages an verschiedenen Veranstaltungsorten. Für Außenstehende klingt das wie ein absoluter Albtraum und ich frage, ob es irgendetwas gibt, dass das leichter macht. Ohne zu zögern kommt die Antwort: „Ja. Zwei Leute im Büro, die fantastisch sind: Anniina und Seija. Die beiden arbeiten schon so lange an der Logistik, dass sie ganz leicht sehen, was funktioniert und was nicht, wenn beispielsweise Leute zu eng zusammen sind oder ein Probenplan blockiert wird. Sie haben eine ausgeklügelte Datenbank und so große Erfahrung, dass sie dir sofort rotes oder gelbes Licht geben können.“
Die Intendanz jedweden Festivals zu übernehmen bedingt einen Kompromiss dazwischen, das Erbe des Festivals zu erhalten und neue Wege für die Zukunft einzuschlagen. Ich frage Pensola und Tikkanen, welche Elemente es sind, die Kuhmo besonders machen und die um jeden Preis bewahrt werden müssen – die Seele des Festivals, sozusagen.
„Es wird viel über die Seele von Kuhmo gesprochen“, antwortet Tikkanen. „Das bedeutet wahrscheinlich für jeden, der hier her kommt, etwas anderes, sei es von jemandem im Publikum oder einem Interpreten, jemandem aus Finnland oder dem Ausland, aus Skandinavien oder Israel.“ Sogar zwischen ihm („Ich komme aus etwa der gleichen Höhe auf der finnischen Landkarte, und Kuhmo war der erste Ort, an dem ich Interpretationen und Musik auf so hohem Niveau live hören konnte.“) und Pensola („Für mich ist das schon exotisch; ich bin ein Stadtkind.“). Doch wenn es etwas gibt, bei dem sich alle einig sind, dann, dass die Stimmung dort einzigartig ist, weil der Ort so klein ist und alle zusammengewürfelt werden. Publikum, junge Musiker, die an den Musikkursen des Festivals teilnehmen, und erfahrene Profis finden sich höchstwahrscheinlich in ein und derselben Schlange für Essen oder Kaffee wieder, sitzen in der gleichen Sauna oder bewundern zusammen den Sonnenuntergang über dem See (und, sagt Tikkanen mit trockenem Humor, sie kämpfen alle mit den gleichen Stechmücken). Es werden Freundschaften geschlossen, die für junge Interpreten sonst selten sind – „nicht nur, um gemeinsam zu musizieren, das macht man das ganze Jahr über, aber mit diesen Leuten macht man auch etwas anderes“ – und die daraus resultierende Stimmung überträgt sich auch auf den Hörer. Es schien beinahe ein Wunder, dass das Festival 2021 irgendwie hatte stattfinden können, wenn auch in kleinem Rahmen, doch es war auch sehr enttäuschend, dass fast alle Orte, an denen Leute zusammenkommen könnten, coronabedingt geschlossen waren, und Pensola glaubt, dass sich viele Leute darum etwas verloren vorgekommen sind. Man hofft sehr, dass diese Einschränkungen nicht auch für 2022 gelten werden.
Was die Festivals 2023 und danach angeht, sammelt das Paar bereits Ideen, versucht jedoch, sich jetzt noch nicht so sehr darauf zu konzentrieren. Ein bekannter Weg, den die beiden Musiker weiterhin einschlagen wollen, ist der des Gastkomponisten, was dergestalt in diesem Jahr zum ersten Mal mit Osvaldo Golijov zum Tragen kommt. Sie freuen sich darauf, Golijovs Werk zu spielen und ihn in Frage-Antwort-Runden mit dem Publikum zu sehen. Für 2023 haben sie die britische Komponistin Charlotte Bray eingeladen; sie finden, dass die Kommission neuer Werke in Zukunft ein wichtiger Bestandteil des Festivals sein sollte. Sie hoffen auch, „mehr Konzerte an intimen Veranstaltungsorten zu haben und die Umgebung etwas mehr zu nutzen. Vielleicht wird es mehr Pop-ups und ortsbezogene Elemente geben, die die besondere Umgebung beleuchten, in der wir uns hier befinden.“
Es ist nun schon lange her, dass Pensola und Tikkanen sich kennengelernt haben, in der Warteschlange zum Vorspielen für die Violinklasse der Sibelius-Akademie („P und T. Wir standen recht nahe beisammen.“) Später spielten sie zusammen im Meta4 Streichquartett, eine musikalische Beziehung, die bis heute besteht. Es war erst noch später, dass die beiden ein Paar wurden (in Kuhmo natürlich). Gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten ist für die beiden so natürlich wie das Atmen, und Minna Pensola mag, wie ein befreundeter Journalist es beschrieben hat: „Wenn man zusammenarbeitet, macht das die schwierigen Aufgaben einfacher, und die leichten Aufgaben machen Spaß.“
Das Kuhmo Kammermusikfestival und die Kuhmo Musikkurse 2022 finden vom 10. bis zum 23. Juli statt.
Dieses Interview wurde gesponsert vom Kuhmo Chamber Music Festival.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.