Für Martin Fischer-Dieskau fühlen sich die zwei Jahre seit seinem letzten Engagement in den USA wie eine außergewöhnlich lange Pause an. Der rastlose Maestro liebt es, auf der ganzen Welt mit Musikern und dem Publikum zu kommunizieren und interagieren, kein Wunder also, dass er sich auf die Rückkehr in die Neue Welt freut, um am 13. Juli ein Berlioz-Programm beim Round Top Music Festival in Texas zu leiten.
„Es ist schon irgendwie lustig, dass sie einen deutschen Dirigenten für dieses Programm mit französischer Musik wählen, das dem 150. Todestag Berlioz’ huldigt”, bemerkt Fischer-Dieskau in unserem Skype-Interview, während er zuhause in seiner Heimatstadt Berlin ist. „Aber er spielte eine wichtige Rolle für Richard Wagner, besonders mit Roméo et Juliette, das ganz offensichtlich Tristan und Isolde beeinflusste”, fügt er hinzu, wobei er Berlioz’ gewaltige, originelle und tiefergreifende Interpretation von Shakespeares Stück als „dramatische Symphonie” bezeichnet, das Herzstück des Programms.
Eine weitere Faszination liegt darin, dass Berlioz selbst ein Pionier des Dirigierens war – „gegen seinen Willen, weil niemand sonst es wagte, diese verworrenen Partituren aufzuführen. Bis heute ist es sehr schwer, diese zu realisieren”, erklärt er. Fischer-Dieskau hat die Geschichte seiner Profession ausführlich studiert: das Verständnis, wie sich die Rolle und die Erwartungen entwickelt haben, ist für ihn essentiell, um seine eigene Rolle als Dirigent zu verbessern. 2016 veröffentlichte Fischer-Dieskau ein Buch über die Evolution des Dirigierens an italienischen Opernhäusern während des frühen 19. Jahrhunderts, und vor kurzem hat er ein faszinierendes Essay darüber abgeschlossen, wie die richtigen Qualifikationen, um Dirigent zu werden, in der heutigen Musikszene zutiefst missverstanden werden. Dies sind Ideen, die er mit aufstrebenden Musikern teilen wird, mit denen er am Round Top Festival Institute, das 1971 gegründet wurde, zusammenarbeiten wird.
„Das ist eine wunderbare Gelegenheit für mich, genau das zu tun, was ich machen will. Bei der Arbeit mit jungen Musikern ist es immer eine Herausforderung, ob man sich selbst verständlich machen kann”, erklärt er. Neben der intensiven Arbeit am Konzertprogramm, genießt Fischer-Dieskau es, seine Ideen über die Rolle des Dirigenten zu diskutieren und die Macht, die das Publikum oft einer visuell fesselnden Bühnenpersönlichkeit zuschreibt, zu entmystifizieren.
„Körperbewegungen und Gesten sind lediglich die Spitze des Eisbergs – aber das ist nicht Dirigieren”, erklärt er. „Selbst wenn es das Publikum damit verwechselt. Aber genau das wird auch als Dirigieren an Schulen und Festivals unterrichtet, selbst von großen Lehrern, wenn sie die Armbewegungen ihrer jungen Studenten korrigieren. Das alles hat aber nur Bedeutung, wenn diese Person bereits Musiker ist. Heutzutage fangen viele mit den Körperbewegungen an und vergessen dabei auf die instrumentelle Vorbereitung. In meiner eigenen Arbeit als Professor [an der Hochschule für Künste Bremen], weiß ich, wie sich Studenten auf ein Vordirigieren vorbereiten ohne je ein Instrument gespielt zu haben, aber bereits über eine Karriere als Dirigent nachdenken.”Wie würde denn die richtige Vorbereitung aussehen? „Für Roméo et Juliette spiele ich die Geigen- und Violaparts selbst und gemeinsam mit meiner Frau, eine Cellistin, damit ich die Schwierigkeiten für die Streicher kenne. Für den Liederzyklus Les Nuits d'été [ebenfalls Teil des Programms, mit Sasha Cooke als Solistin] spiele ich die Lieder am Klavier und überlege, wie die Tonarten transponiert werden, wenn es nur ein Sänger ist, wie es bei uns der Fall ist, da Berlioz sie für verschiedene Stimmlagen geschrieben hat. Erst nach dieser detaillierten Arbeit kann die gestische Vorbereitung beginnen.”
Letztendlich glaubt Fischer-Dieskau fest daran, dass man die Musik auswendig dirigieren sollte. Ansonsten, findet er, verlassen sich schlecht vorbereitete Dirigenten auf oberflächliche Gesten, um ihr fehlendes Wissen der Details der Partitur zu verbergen. „Als Dirigent muss man dem Publikum die Architektur – wie die Musik zum Höhepunkt führt – klar machen, sodass es nicht nur eine willkürliche Reihe an Klängen ist. Die Zuhörer werden ein Gefühl der Euphorie entwickeln, wenn die Vorstellung auf diese Art authentisch ist. Sie fühlen es intuitiv. Die eigentlichen Körpergesten sind irrelevant.”
Laut Fischer-Dieskau hat sich das Dirigieren aus rein praktischen, „logistischen” Gründen entwickelt, um Musiker besser koordinieren zu können. Es war nie als Endprodukt an sich gedacht „und sicherlich nicht als individuelle Disziplin, isoliert von der Teilnahme anderer.” Aber heutzutage verbergen die hektische Geschwindigkeit, in der Konzerte geplant werden und das Streben nach einer Karriere – sowie die Bereitwilligkeit der Öffentlichkeit, von „den optischen Effekten des Dirigierens, der Mimik den Gesten und dem Tanzen auf der Bühne” geblendet zu werden – die harte Arbeit, die vorangegangene Generationen an Dirigenten für notwendig für ihre Rolle hielten. Tatsächlich ist er davon überzeugt, dass diese Expertise notwendig ist, um die Existenz des Dirigenten als Besonderheit zu rechtfertigen.
„Es wird vermutlich erwartet, dass ich damit prahle, dass ich in meiner 45-jährigen Karriere mit mehr als 100 Orchestern zusammengearbeitet habe, von Europa bis Kanada bis Japan und Taiwan.” Aber Fischer-Dieskau will den Fokus nicht auf einen Heldenleben ähnlichen Lebenslauf legen, auf „die großen Taten des Helden”, sondern darauf, was ein wahrer Dirigent versuchen sollte zu erreichen. „Und das ist die unglaublich schwierige Aufgabe, die Wünsche des Komponisten mit jeglichem Orchester oder Solisten zu erfüllen. Man sollte versuchen zu erläutern, was die jeweilige Komposition für das Publikum bereithält. Wenn man eine solche Aufgabe in ihrer gesamten Komplexität erfüllen möchte, dann hat man keine Zeit, an das Streben nach einer Karriere zu denken. Es benötigt viele fundamentale Fähigkeiten bevor man das Podium überhaupt besteigt. Die Grundeinstellung beim Dirigieren sollte Bescheidenheit sein. Paradoxerweise ist das bei vielen keine offensichtliche Eigenschaft.”
Als Sohn eines weltberühmten Sängers und einer talentierten Cellistin räumt Fischer-Dieskau, der 1954 geboren wurde, ein, dass er schon früh den Weg eines gesamtheitlichen Konzepts seiner Profession eingeschlagen hat. „Wir sind sozusagen in einem Opernhaus aufgewachsen, als Theaterkinder” – seine zwei Brüder sind ebenfalls Künstler – „und ich bin sehr privilegiert, Teil einer großen Tradition zu sein. Vielleicht ist das der Grund, warum ich nie auf eine große Karriere fokussiert war, und die Freiheit haben kann, die Arbeit zu machen, die meiner Meinung nach notwendig ist, um sich als Dirigent vorzubereiten.”
Fischer-Dieskau erwähnt ein bevorstehendes Projekt, das ihm besonders am Herzen liegt. Im Alter von 23 Jahren wurde er von Antal Doráti als Assistent-Dirigent beim Detroit Symphony Orchestra ausgewählt, was zu einer maßgeblichen Freundschaft wurde. In dem Jahr als Doráti starb (1988), spielte Fischer-Dieskau gemeinsam mit ihm die gesamte Partitur seiner einzigen Oper am Klavier und Doráti vertraute ihm die Uraufführung an. „Es hat mehr als drei Jahrzehnte gedauert, aber ich plane sie 2021 bei einem speziellen Festival zu präsentieren – falls ich die nötigen finanziellen Mittel auftreibe.”
Dorátis Oper basiert auf dem Mysterienspiel Elijah des deutsch-israelischen Philosophen Martin Buber. „Die Musik erinnert stark an Bartók und Kodály, aber mit einem amerikanischen Einschlag und es ist ein wundervolles Stück”, sagt Fischer-Dieskau. Wenn sein Plan aufgeht, wird er im Herbst 2021 die Premiere beim Buber-Doráti Festival in Tel Aviv und Berlin dirigieren.
Welches Repertoire bereitet er am liebsten vor? „Ich liebe dasselbe Repertoire wie jeder andere Dirigent: Bruckner, Mahler, Brahms, Verdi und Wagner. Die Frage ist nicht was ich dirigieren, sondern ob ich die Möglichkeit habe, mich in die Details zu vergraben. Dann hoffe ich, dass ich allen Wünschen des Komponisten gerecht werden kann.”
Fischer-Dieskau, ein hochkultivierter Musiker, dessen Liebe für Literatur und Geschichte unser Gespräch durchtränkt, schloss vor vier Jahren ein Doktorat in Italienischer Literatur und Musikwissenschaften an der Freie Universität Berlin ab. „Es gibt so viele andere Dinge, die ebenfalls wichtig für einen Dirigenten sind: andere Fächer zu lesen und zu studieren ist Teil davon. In meinem Fall kann es ein Leben lang dauern. Ich höre niemals auf, selbstkritisch zu sein.”
Fischer-Dieskau betrachtet all diese Ebenen der Vorbereitungen für ein Konzert wie das Berlioz-Programm als „eine Kunstform an sich.” Der Aufwand sollte dahin gehen, zu erläutern, was die Musik bedeutet. Für den Dirigenten „bleibt Bescheidenheit die Maxime.” Trotz seiner Kritiken sieht er sich nicht als Reformer oder Revolutionär. „Ich will einfach sichergehen, dass ich nicht allzu sehr von diesem allgegenwärtigen Karrierestreben beeinflusst werde. Das Orchester merkt es, wenn man ein gut vorbereiteter und ehrlicher Musiker ist. Ich weiß es, weil ich es oft mit Orchestern auf der ganzen Welt erlebt habe. Das kann man nicht vortäuschen.”
Fachwissen bleibt ein herausforderndes Ziel, allerding „ist es schwer für uns zu erreichen. Ich glaube, dass wir vorsichtig sein müssen, den Promistatus eines Dirigenten nicht zu überschätzen, und die Schwierigkeiten zu unterschätzen.”
Aber nach all dem Aufwand, was gefällt Fischer-Dieskau am meisten am Dirigieren, wenn er wieder auf dem Podium steht? „Dass ich nicht mehr dirigieren muss! Dass ich fast bewegungslos dastehen und zuhören kann – während ich natürlich alle Anweisungen gebe. Wenn man die Partitur auswendig kennt, ist es wie ein Wunder und gelingt ganz von allein. Das Bild des Dirigenten scheint hinter dem Podium, wo es von jedem gesehen werden kann. Es ist so schwierig zu erreichen. Aber es gibt kaum etwas Schöneres.”
Dieser Artikel wurde von Hemsing Associates gesponsert.
Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.