Große Musiker spielen, als wären sie mit ihrem Instrument in der Hand auf die Welt gekommen. Im Fall des aufstrebenden Cellisten Marcel Johannes Kits trifft das beinahe zu. Der Klang des Cellos zog den jungen Marcel in seinen Bann. „Ich wollte es unbedingt lernen und habe schon mit fünf Jahren zu spielen begonnen.”

Marcel Johannes Kits
© Kaupo Kikkas

Im Gespräch mit Kits über Zoom aus Berlin, wo er gerade sein Studium bei Jens Peter Maintz an der Universität der Künste Berlin fortführt, erfahre ich mehr. Als Sohn eines Architekten und einer Hausfrau kam Kits als Kleinkind durch das Radio zum ersten Mal mit klassischer Musik in Berührung und war schnell fasziniert. „Meine Eltern haben immer den Klassiksender gehört, und ich habe immer gefragt: ,Was ist das, was ist das?”, erzählt er mir. Im Alter von vier Jahren entschied er sich für einen Weg, den er bis heute verfolgt und der ihn in seiner Heimat Estland und in ganz Europa bekannt gemacht hat.

Kits' Eltern haben ihn und seine vier Geschwister – darunter seine Zwillingsschwester Katariina Maria Kits, eine aufstrebende Geigerin – zu Hause unterrichtet, was ihm viel Zeit für seine musikalische Ausbildung ließ. Er erinnert sich, dass es in den frühen Tagen des Cellounterrichts „keine Computer und keine Handys gab ... nicht wie heute”, was seine Konzentration förderte.

Kits war sieben, als er von der angesehenen estnischen Pädagogin Laine Leichter am Musikgymnasium Tallinn aufgenommen wurde. „Sie war die Grand Old Lady der estnischen Cellisten”, sagt er. „Sie ist letztes Jahr mit 99 Jahren gestorben, und ich war ihr letzter Schüler.” Kits hat auch bei Mart Laas, dem Solocellisten der Estnischen Nationaloper, gelernt, der selbst ein ehemaliger Schüler von Leichter war.

Kits' Lehrer haben seine Leidenschaft, seinen Ehrgeiz und seine Motivation erkannt. Im Alter von 11 Jahren gab er sein Debüt als Orchestersolist und gewann die ersten Preise bei fast allen estnischen Musikwettbewerben, bevor er die Oberschule abschloss. Er fühlte sich auch zur Kammermusik hingezogen und gründete 2003 mit dem Pianisten Rasmus Andreas Raide und dem Geiger Robert Traksmann das Trio '95. (Der Name bezieht sich auf ihr geteiltes Geburtsjahr.)

„Wir hatten wirklich großes Glück, dass wir uns an der Tallinner Musikhochschule gefunden haben”, sagt Kits heute. „Wir waren in der zweiten Klasse! Wir haben zehn Jahre lang zusammen gespielt, und dann sind wir alle zum Studium nach Deutschland gegangen. Wir hatten eine großartige Zeit zusammen, obwohl wir alle unterschiedliche Persönlichkeiten haben.”

Trio '95 spielt Beethovens Tripelkonzert beim Ilmari Hannikainen Klavier-Kammermusikwettbewerb

In unserem Gespräch betont Kits stets, dass er sich immer noch als Student sieht und er legt eine Bescheidenheit an den Tag, die dem gängigen Vorurteil eines jugendlichen Wunderkindes widersprechen würde. Das zeigt sich auch darin, dass er bei seiner Übersiedlung von Estland nach Deutschland nicht gleich in eine Weltmetropole wie Berlin oder München gehen wollte. Stattdessen landete er in Trossingen, einer Stadt mit 15.000 Einwohnern, wo er vier Jahre lang an der Musikhochschule studierte.

„Ich habe einen Lehrer gefunden, bei dem ich studieren wollte, und der war in Trossingen”, sagt er und verweist auf Francis Gouton, mit dem er von 2014 bis 2018 zusammengearbeitet hat. „Es ist ein bisschen verrückt, dass ich in die kleinstmögliche Stadt gegangen bin, aber der Lehrer war fantastisch, und deshalb wollte ich dorthin gehen. Und ich hatte dreieinhalb Jahre Unterricht bei ihm.

„Wissen Sie, Estland ist klein”, fährt er fort. „Es ist wirklich schön, aber ich wollte die Welt sehen, neue Perspektiven und Ideen bekommen. Am Anfang dachte ich natürlich, einfach nur Cello zu lernen, wäre gut. Aber als ich nach Deutschland kam, entdeckte ich, dass es noch viel zu tun gab.”

Diese Arbeit bestand unter anderem in der Erweiterung seines Repertoires. Kits scheint nicht damit zufrieden zu sein, sich nur auf einen Bereich der Musik zu spezialisieren. „Ich versuche, wirklich offen zu sein und mich auf alles einzulassen, was ich gerade spiele. Ich möchte alles ausprobieren”, sagt er. „Einer meiner Lieblingskomponisten ist natürlich Beethoven, aber ich spiele auch sehr gerne Musik aus dem 20. Jahrhundert. Ich liebe auch barocke Cellokonzerte sehr. Andererseits ist Bach eine Art Hassliebe. Da braucht man viel mehr Zeit. Ich bin fünfundzwanzig, und ich habe das Gefühl, dass ich doppelt so viel Zeit wie für andere Stücke brauche, um sie vollständig zu verstehen.”

Trotz seiner Bescheidenheit haben andere Kits' bereits etabliertes Talent erkannt, und er hat sich auch als Erwachsener bei Wettbewerben durchgesetzt. Sein bisher vielleicht bemerkenswertester Sieg war der erste Preis in der Kategorie Cello beim George Enescu-Wettbewerb 2018 in Rumänien.

„Die Erfahrung war ein bisschen verrückt”, erinnert sich Kits. „Das Beste war, dass ich angesichts des Repertoires, das ich spielen musste, enorme Fortschritte als Künstler gemacht habe. Ich hatte noch nie so viele Stücke, schwierige Stücke, innerhalb einer Woche gespielt. Die Vorbereitung auf diese Art von Wettbewerb war eine riesige Lektion für mich, und ich glaube, mein Niveau der Vorbereitung ließ mich während des Wettbewerbs vergessen, dass es ein Wettbewerb war. Und vielleicht ist es deshalb so gut gelaufen. Der ganze Prozess hat meine Denkweise wirklich nachhaltig geprägt.”

Marcel Johannes Kits
© Rasmus Kooskora

Kits gewann den Enescu-Wettbewerb mit einem Cello von Francesco Ruggeri aus dem Jahr 1674, das ihm die Deutsche Stiftung Musikleben seit 2016 als Leihgabe zur Verfügung stellt. Die Stiftung vermittelt vielversprechenden Künstlern aus Deutschland legendäre Instrumente, um ihre Karriere zu fördern.

Dieses besondere Cello zu erhalten, war „der überraschendste und glücklichste Tag in meinem ganzen Leben”, sagt Kits. „Ich war dieser Niemand aus Trossingen, also fühlte ich mich wirklich, wirklich im Glück. Trotzdem waren die ersten Jahre damit schwierig, und ich war nicht immer glücklich damit. Es hat lange gedauert, mindestens zwei Jahre, bis ich den Wert des Instruments wirklich verstanden habe. Sein Klang ist sehr einzigartig und anders.”

Die COVID-19-Pandemie hat Kits' Werdegang natürlich unterbrochen, da das Musikleben auf der ganzen Welt für den größten Teil des Jahres pausiert hat, aber es hat ihm Zeit zum Üben gegeben. Er sagt auch, dass er die unerwartete Auszeit genutzt hat, um anderen, nicht-musikalischen Interessen und Hobbys nachzugehen. Er beschreibt sich selbst als „verrückten Leser” und, wie jeder andere auch, schaut er viel fern. Eine überraschende Entdeckung: Er liebt es, lange Autofahrten zu unternehmen.

„Die Freiheit ist unglaublich”, schwärmt er. „Es spielt keine Rolle, ob Corona da draußen ist oder man keine Kontakte zu anderen Menschen hat. Ich kann einfach alleine unterwegs sein, in die Natur gehen, was auch immer, wo auch immer. Estland ist klein. In drei Stunden kann ich von einer Ecke des Landes in eine andere kommen. Ich kann nachdenken und meinen Kopf frei bekommen.”

Kits ist in den vergangenen Monaten zwischen Estland und Deutschland gependelt. Ich frage ihn, was er die Welt über sein Heimatland wissen lassen möchte. Nachdem er über die „unberührte Natur” der estnischen Wildnis geschwärmt hat, wendet er sich instinktiv der Musik zu. 

„Estland hat 1,3 Millionen Einwohner. Aber für ein so kleines Land ist unser Musikleben etwas ganz Besonderes”, erzählt er mir. „Unsere Komponisten, Musiker, Orchester, Dirigenten, Instrumentalisten, Sänger. Wir haben alle vier Jahre ein Liederfestival, bei dem 100.000 Menschen – ein Zehntel der Bevölkerung des Landes – zusammenkommen und gemeinsam singen. Obwohl die Esten vielleicht etwas reserviert wirken - wir grüßen keine Fremden auf der Straße - lieben wir es, gemeinsam zu singen.” Er unterbricht sich schnell, um sich selbst als „schrecklichen Sänger” zu bezeichnen. (Wieder mit Bescheidenheit.) Aber er ist bereits auf dem Weg, sich seinen Landsleuten anzuschließen und ihre reichen kulturellen Traditionen zu pflegen.

Als wir uns verabschieden, frage ich ihn, was seiner Meinung nach das Geheimnis ist, um als Musiker zu lernen und zu wachsen. „Das Geheimnis ist, immer neugierig zu sein”, antwortet er. „Man kann nie zufrieden sein. Man kann sich im Moment gut fühlen, aber wenn man sich die ganze Zeit so fühlt, stellt sich eine Routine ein, und die Leidenschaft stirbt. Man muss sein musikalisches Leben immer interessant gestalten. Deshalb liebe ich es, mit einem Orchester [als Solist] zu spielen, ich liebe Kammermusik und ich liebe es, als Teil eines Orchesters zu spielen. Was das Leben für mich bereichert, ist der Versuch, all diese Dinge zu tun, während ich immer auf der Suche nach etwas Neuem bin.”

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Mit dem Projekt Young Artists To Watch möchte Bachtrack junge Künstler aus aller Welt ins Rampenlicht rücken, die aufgrund der durch die Pandemie verursachten Einschränkungen vielleicht nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient hätten.

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Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.