Für Opernliebhaber in aller Welt ist Bayreuth gleichbedeutend mit Wagner: Die Sommerfestspiele, die dem deutschen Komponisten gewidmet sind, gehören zu den bekanntesten und angesehensten der Musikbranche. Aber in Bayreuth gibt es zwei Opernhäuser: das Richard-Wagner-Festspielhaus und ein barockes Juwel, das Markgräfliche Opernhaus, das Mitte des 18. Jahrhunderts erbaut wurde. Das Theater, dessen spektakuläres Interieur vom italienischen Architekten Bibiena nach dem Vorbild des Theaters am Kärntnertor in Wien entworfen wurde, ist heute fast das ganze Jahr über ein Museum, mit Ausnahme von zwei Wochen im Sommer, in denen das Bayreuth Baroque Opera Festival stattfindet.
Max Emanuel Cenčić, einer der renommiertesten Countertenöre der Welt und Leiter der Festspiele, spricht mit Begeisterung über den Ort und seine Geschichte. Das Markgräfliche Opernhaus wurde von Wilhelmina, Tochter des Königs von Preußen und verheiratet mit dem Markgrafen von Bayreuth, erbaut. Sie war jedoch weit mehr als eine Mäzenin: Sie umgab sich mit Künstlern, Sängern, Tänzern, Schauspielern, in einer kulturellen Gemeinschaft mit böhmischen Anklängen, ganz ungewöhnlich in jener Zeit, in der Künstler nicht mehr (oder weniger) als Diener waren. Sie war selbst Komponistin und baute das Theater nicht als Teil der Schlossanlage, sondern mitten in der Stadt, mit einem Fassungsvermögen von über 600 Personen. Es war kein königliches Theater zur Unterhaltung des Hofes. Es war vielmehr für die Bürger der Stadt gedacht und zeigte Werke der berühmtesten Musiker und Künstler der damaligen Zeit. Wilhelmina von Bayreuth war Unternehmerin und eine ehrgeizige Frau, die ihrer Zeit voraus war.
Das Festival, das in seiner jetzigen Form im Jahr 2020, also mitten in der Pandemie, ins Leben gerufen wurde, ist der italienischen Opera seria gewidmet, die hauptsächlich im Markgräflichen Theater im 18. Jahrhundert aufgeführt wurde. Das Hauptaugenmerk liegt auf weniger bekannten Werken: die Wiederauferstehung von Opern, die das moderne Publikum kaum kennt.
Cenčić betont, dass das Festival, das er im Sinn hatte, sehr ehrgeizig war. „Die Qualität der Inszenierungen ist mein größtes Anliegen”, sagt er. „Wir bemühen uns, die besten Orchester und die besten Sänger zu engagieren, um Aufführungen zusammenzustellen, die als Maßstab für künftige Wiederaufnahmen dieser vergessenen Juwelen dienen können.” Um flexibel zu bleiben, hat das Festival kein festes Orchester, sondern setzt verschiedene Ensembles ein. In diesem Jahr wird das Hauptorchester das {oh!} Orkiestra sein, geleitet von Martyna Pastuszka.
Die zentrale Inszenierung ist die szenische Oper Alessandro nell'Indie nach einem Libretto des Dichters Pietro Metastasio und mit Musik von Leonardo Vinci aus dem Jahr 1730. Die Uraufführung fand in Rom statt, das damals eines der wichtigsten kulturellen Zentren Europas war, in dem die bedeutendsten Komponisten lebten: Vivaldi, Porpora, Leo, Sarro (Corelli spielte die erste Geige für Händel, als dieser in Rom war!). Da Frauen damals im Kirchenstaat nicht auf Bühnen auftreten durften, gab es viele Kastraten, die sich auf Frauenrollen spezialisiert hatten.
Um diese Tradition zu ehren, wird Alessandro von einer rein männlichen Besetzung aufgeführt. Ich frage Cenčić, was die Herausforderungen bei der Zusammenstellung einer solchen Aufführung sind: „Die Sänger zu finden!”, antwortet er. „Man braucht so viele, dass es sehr schwierig wird, die richtigen Darsteller mit der richtigen Qualität zu finden. Vor fünf Jahren hätte ich mir das nicht träumen lassen, aber inzwischen habe ich einige außergewöhnliche junge Countertenöre gefunden, die die Besetzung vervollständigen, zusammen mit etablierten Stars vom Kaliber eines Franco Fagioli oder Jake Arditti. Eine solche Oper kann man nicht einfach mit irgendjemandem besetzen.” Sein Perfektionismus ist köstlich.
Cenčić singt selbst nicht in Alessandro, aber er ist der Regisseur, eine Rolle, die er in den letzten Jahren übernommen hat. Ich frage ihn, was für eine Art von Inszenierung das sein wird: „Das Libretto birgt einige Schwierigkeiten: Es erzählt die Geschichte von Alexander dem Großen auf seinem Indienfeldzug, und weder Metastasio noch Vinci wussten etwas über Indien. Das ,Indien’, das sie uns präsentieren, ist ein fantastischer Ort, der ihrer Phantasie entsprungen ist, voller Vorurteile und der kolonialen Haltung der damaligen Zeit. Um das moderne Empfinden nicht zu verletzen, war es naheliegend, die Handlung an einem Ort anzusiedeln, der dieses Gefühl des Orientalismus vermitteln würde: dem Royal Pavilion in Brighton. Es ist nicht Indien, sondern das, was die koloniale Kultur sich unter Indien vorgestellt hat, und so entspricht es dem Geist der Oper.”
Das Konzept ist das eines Stücks im Stück: Die Oper wird im Königlichen Pavillon aufgeführt, wobei König Georg IV. den Alessandro spielt. Die Inszenierung wird nicht auf Tournee gehen, aber sie wird auf Mezzo, Arte, Medici TV zu sehen sein, wo das Streaming von Aufführungen des Bayreuth Baroque Festivals in der Vergangenheit sehr erfolgreich war.
Eine weitere bei den Festspielen präsentierte Oper ist Giovanni Bononcinis Griselda, ein obskures Juwel aus dem 18. Jahrhundert. Die Arie „Per la gloria d'adorarvi” wurde von mehreren Sängern (u. a. Pavarotti und Sutherland) in Konzerten gesungen, wodurch sie einem breiten Publikum bekannt wurde, aber die Oper wurde nie in ihrer Gesamtheit aufgeführt. Einer der Gründe dafür ist, dass nur die Partitur der Arien, der Ouvertüre und der Chöre bis heute überlebt hat – dank der Veröffentlichung von John Walsh –, aber alle Rezitative sind verloren. Cenčić hat einen modernen Komponisten, Dragan Karolić, gebeten, die Rezitative neu zu komponieren, um eine sinnvolle, kohärente Aufführung zu ermöglichen. „Natürlich wird sich jemand an der Idee festbeißen, aber die Alternative wäre gewesen, diese Inszenierung gar nicht erst zu realisieren. Schließlich wurden in der Barockzeit (und bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein) die Rezitative sehr oft von Assistenten oder Schülern der Hauptkomponisten geschrieben, und Karolić hat großartige Arbeit geleistet. Wir hoffen, Bononcini wird uns verzeihen”, scherzt Cenčić.
In Griselda wird Cenčić die Rolle des Gualtiero singen, die für den berühmten Kastraten Senesino geschrieben wurde. Ich frage ihn, wie sein Verhältnis zu seiner eigenen Stimme heute ist: „Ich versuche, meinem Körper und meinem Geist als Sänger zu folgen, das zu tun, was in jedem Moment in meinen körperlichen und geistigen Möglichkeiten liegt”, antwortet er. „Wir alle müssen uns unserer Grenzen bewusst sein, und je älter ich werde, desto mehr versuche ich, Rollen zu finden, in denen ich überzeugend sein kann. Mit dem Alter kommt die Erfahrung, und man kann die Veränderungen in seinem Körper nutzen, um neue Rollen und ein neues Repertoire auszuprobieren. Zu Beginn meiner Karriere hatte ich das Gefühl, dass meine untere Stimmlage vielleicht nicht stark genug ist, aber jetzt hat sich meine Stimme in diese Richtung entwickelt, so dass ich die Rollen des Senesino erforsche, was mir viel Freude bereitet.
„Sänger zu sein ist eine Reise; die Beziehung zu deiner Stimme ist wie eine Liebesbeziehung: wenn du jung bist, verliebst du dich, alles ist aufregend, dann wird dein Herz gebrochen, vielleicht findest du später im Leben dein Glück und verstehst, dass die vielen Höhen und Tiefen notwendig waren, um der zu werden, der du heute bist.”
Als Rossini-Liebhaberin kann ich nicht widerstehen, ihn über sein Engagement in diesem Repertoire zu befragen. Cenčić nahm 2007 eine CD mit Rossini-Arien auf und erregte damit einiges an Aufsehen, da Rossini (mit Ausnahme von Aureliano in Palmira) nie für einen Kastraten schrieb, sondern nur für weibliche Mezzos. „Es war ein bisschen frech von mir”, scherzt er, „ein Countertenor, der Rossini singt, war für viele Kritiker einfach nicht akzeptabel. Einige schätzten das Ergebnis, andere (vor allem Italiener) waren entsetzt, und einer – der die CD ,blind’ hörte, ohne zu wissen, wer da singt – hielt mich für eine Frau! Das war ein großes Lob für mich, denn ich strebe immer nach einem natürlichen weiblichen Klang.”
Cenčić erinnert sich, wie einfach Rossini für ihn war, wie befreiend – „die Stimme konnte atmen und sich frei bewegen”. Als Knabensopran hat er häufig Musik der Klassik und Romantik gesungen, sie war Teil seiner musikalischen Erziehung. „Ich habe diesen Stil als Kind aufgesogen und verinnerlicht. Rossini zu singen war wie ein Wiedersehen mit meiner Kindheit, es war die Krönung meiner ersten Karriere, vor meinem Stimmbruch. Von klein auf habe ich meine Eltern (eine Sopranistin und einen Dirigenten) beim Aufführen des italienischen Belcanto beobachtet, und die gesamte Inspiration von damals kam zurück.” Es ist sofort zu hören, dass er in seinen Aufnahmen ein großes Gespür für diesen Stil zeigt.
Nach der CD gab es einige Konzerte, aber es dauerte noch zwölf Jahre, bis er in einer szenischen Aufführung von La donna del lago in Lausanne zu sehen war. „Ich war unglaublich glücklich darüber, weil ich wusste, dass es meine erste und letzte Chance sein würde, Rossini auf der Bühne zu singen. Das ist jetzt ein abgeschlossenes Kapitel meiner Karriere.”
Meine letzte Frage betrifft das Lampenfieber: Leidet jemand, der sein ganzes Leben lang auf der Bühne gestanden hat, immer noch darunter? „Ich leide unter furchtbaren Ängsten, wenn ich auf die Bühne muss, das überwindet man nie ganz. Es ist beängstigend, manchmal ist es so, dass man es nicht kontrollieren kann. Aber am Ende kann man nur auf die Bühne gehen und sein Bestes geben.” Und zu unserem Glück ist sein Bestes wunderbar.
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Dieser Artikel wurde gesponsert vom Bayreuth Baroque Opera Festival.
Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.