Wenn Sie zu einer Barrie Kosky-Inszenierung gehen, wissen Sie, dass Sie ein Theater erwartet, etwas, das Sie in Erstaunen versetzt, etwas, das vor Ideen sprüht – egal ob Sie mit ihnen einer Meinung sind oder nicht. Im ersten Teil dieses zweiteiligen Interviews erzählt uns Kosky, wie seine Magie entsteht: wie er Regie führt, wie er probt, wie er das Ensemble an der Komischen Oper Berlin aufgebaut hat, über seine gefeierten Meistersinger in Bayreuth und seine kontroverse Carmen in London. Wir haben Kosky in seinem Berliner Büro getroffen, am Tag nach seiner irrwitzig gut angenommenen Premiere von Leonard Bernsteins Candide. Der allgegenwärtige Regie-Hund Sam war auch während des Interviews anwesend, gab aber kein Kommentar ab.
DK: Von Ihrer Seite des Vorhangs gesehen, wie ist der letzte Abend gelaufen?
BK: Es war großartig. Ich habe Candide als Teenager gesehen und mir gesagt „eines Tages gestalte ich meine Version”, Candide schwebt also schon lange in meinem Kopf herum. Aber ich habe so viele Inszenierungen gesehen und festgestellt, dass es ein Minenfeld ist, es auf die Bühne zu bringen, ein unvollkommenes Meisterwerk: man wird es wohl nie richtig hinbekommen, also versucht man, den Berg zu erklimmen. Das Allerwichtigste war für mich gestern Abend, dass wir einmal mehr präsentieren, was ein Ensemble leisten kann: es ist eine Werbung für das großartige deutsche System, dass es einem erlaubt, einen 60-köpfigen Chor zu haben, ein 60-köpfiges Orchester und dazu ein Ensemble, das singen, tanzen und schauspielern kann: ich bin darauf sehr stolz. Zweitens glaube ich, dass viele Zuhörer vom Stück ergriffen waren, was ebenfalls eine gute Sache ist, weil ich von den meisten Inszenierungen von Candide nicht ergriffen bin. Drittens, Nina und Jamie [Bernsteins Töchter] haben es geliebt.
Die Qualität des Ensembles war letzten Abend verblüffend hoch, und mir wurde gesagt, dass dies vor Ihrer Amtszeit nicht immer der Fall war. War das etwas, woran Sie aktiv gearbeitet haben?
Andreas Homoki, mein Vorgänger, der heute Zürich leitet, hat das Haus in einem Durcheinander übernommen, künstlerisch. Als ich es übernommen habe, habe ich mich dazu entschlossen, zum wegweisenden Geist Felsensteins [der 1947 die Komische Oper gegründet hatte] zurückzukehren, der im Grunde die moderne Form des Regietheaters erfunden hat. I beschloss, dass die Leute die Virtuosität des Ensembles bewundern und davon erfreut sein sollen, was man nicht schafft, wenn die gleichen Leute nicht dieselbe Arbeitsweise haben. Mir war auch wichtig, dass mindestens die Hälfte der Inszenierungen und die Hälfte der Arbeit von mir kommen muss, dass ich dem Haus meinen künstlerischen Stempel aufdrücken muss. Das Ensemble wurde also im Kosky-Style unterrichtet, was bedeutet, dass wenn sie mit anderen Regisseuren arbeiten, haben sie eine Fülle an Fähigkeiten und eine Sprache, auf die der Regisseur zurückgreifen kann, wenn er möchte. Jetzt, nach sieben Spielzeiten, sagen die Leute auf der ganzen Welt einmal mehr „was für ein fantastisches Ensemble”.
Verfügt Ihr Ensemble über eine weitere Palette an Fähigkeiten als Ensembles an anderen Häusern?
Ja. Und das ist bewusst so. Ich arbeite mit brillanten Lauten an anderen Häusern, es ist nicht so, dass alles, was wir hier machen, fantastisch ist, oder jeder von uns fantastisch ist. Wovon ich spreche, ist die physische Anforderung, die an einen Opernsänger an meinem Haus gestellt wird: was sie mit ihrem Körper machen können ist für mich genauso wichtig wie was sie mit ihrer Stimme machen können. Wenn Sie die reine Stimme wollen, gehen Sie in ein Konzert, wenn Sie einen klaren Klang wollen, hören Sie sich eine CD an. Ich bin nicht an der Klarheit des Klangs interessiert: Ich bin an der Einheit von der Stimme des Sängers, dem Körper des Sängers interessiert, und der Verbindung mit der Stimme und des Körpers eines anderen Sängers interessiert.
Sie sind auch an Ideen interessiert, an einem Weg zur Bedeutung, die im Werk liegt oder entdeckt werden kann. Wenn Sie an ein neues Werk herangehen, wann und wie nehmen diese Ideen Gestalt an?
Auf verschiedenste Weise – das hängt vom Stück ab. Als ich vor 25 Jahren mit dem Regie führen begann, dachte ich, dass man sich mit einem Bühnenbildner zusammensetzt, alles erarbeitet und in einer Modell-Box präsentiert; dann gäbe es die Probenzeit, in der man sicherstellt, dass alles in diese Modell-Box-Idee hineinpasst. Wie falsch ich lag! Das wird an vielen Kunsthochschulen unterrichtet, aber Gott sei Dank habe ich schnell festgestellt, dass es Blödsinn ist, das Gegenteil davon, was eigentlich passiert. Alles passiert im Probenraum. Alles.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich fange gerade mit der Arbeit an Le Coq d'or an, dass ich 2020 in Aix-en-Provence inszenieren werde. Ich kenne die Musik sehr gut, ich habe Rimskys Musik immer geliebt und die Geschichte, aber ich habe noch nie eine Inszenierung gesehen. Selbst wenn ich ein Stück 20 Mal gehört habe, folge ich immer einem Ritual: in den nächsten zwei Monaten werde ich mich mit meinem Design-Team treffen und wir werden in einem Raum sitzen und die Musik gemeinsam anhören, von Anfang bis Ende, denn der Dreh- und Angelpunkt ist immer die Musik. Obwohl ich vom Drama spreche und obwohl ich vom Text und dem Design und der Aufführung spreche, der Dreh- und Angelpunkt für die Inspiration und dafür, was ich auf der Bühne erreichen möchte, ist die Musik.
Dann beginnen wir damit, die Musik radikal und wissenschaftlich zu studieren, wir schlüsseln sie auf. Die Leute denken, dass die erste Frage ist „Wo soll es spielen? Wird es modern? Machen Sie eine traditionelle Inszenierung? Spielt es in den 20ern?” Das sind nicht die Fragen, die ich stelle – die kommen erst viel später. Die ersten Fragen müssen sein „Was ist die Musik? Was versucht sie auszudrücken? Was ist die emotionale Landschaft des Stücks?” Und dadurch kommen dann die ersten Brocken der Ideen. Das kann sein „Wie bringen wir den goldenen Hahn auf die Bühne? Was ist der goldene Hahn? Der König ist sehr unsympathisch, wie können wir das Publikum dazu bringen, Mitgefühl für diesen Mann zu entwickeln, obwohl er am Ende seine Augen herausgepickt bekommt?” Was nach einigen Monaten oder einem Jahr entsteht, ist ein Raum: all meine Designs sind Räume, in denen alles passieren kann. Nur selten frage ich meine Designer, einen Raum zu entwerfen, wo alles sehr definiert und klar ist, weil ich einfach diesen Raum brauche, um mit der Arbeit zu beginnen. Und tatsächlich, sobald wir diesen Raum bearbeitet haben, was normalerweise ein Jahr vor den Proben ist, vergesse ich die Inszenierung, und bearbeite sie nicht mehr.
Wie viele Mitglieder des Teams sind zu diesem Zeitpunkt involviert?
Bühnenbildner, Kostümbildner, vielleicht ein Lichtdesigner aber normalerweise nicht, vielleicht ein Choreograph, und vielleicht ein Dramaturg (ich habe nicht immer Dramaturgen bei meinen Produktionen). Oft arbeiten Regisseure erst mit dem Kostümbildner zusammen, wenn die Richtung des Designs festgelegt wurde, was ich immer für fatal halte. Also arbeite ich üblicherweise in diesem kleinen Team: keine Assistenten, so klein wie möglich. Dieses Loslassen und Zurücksteigen ist sehr wichtig, weil dadurch der Marinierungsprozess in deinem Kopf beginnt, die Dinge beginnen zu zirkulieren und zu brodeln. Dann, nachdem man zur Seite getreten ist, testet man die Ideen. Manchmal mache ich radikale Änderungen kurz bevor wir mit den Proben beginnen, und denke „das war vor einem Jahr eine blöde Idee”. Tag 1 des Probenprozesses ist kein Austesten, um zu sehen, ob meine Idee brillant war, was eine desaströse Weise ist, Theater zu erschaffen, der Prozess wird wörtlich und sehr pragmatisch zu meiner Frage an eine Gruppe Sänger „OK, was sollen wir mit dieser Szene machen?”. Ich erarbeite nicht die Auf- und Abtritte, Interpretationen, ich spreche nicht darüber, wie der Charakter sein sollte, ich halte meine Kostümentwürfe sehr flexibel und unspezifisch, weil ich nicht will, dass die Kostüme dem Publikum genau erzählen, wer der Charakter ist. Alles wird dann in den Proben erarbeitet, weshalb ich lange Probenzeiten brauche, und gute Leute.
Wie funktioniert das in der Situation einer Koproduktion, wo die Künstler im nächsten Haus vielleicht ganz anders sind? Wir haben Die Zauberflöte in acht verschiedenen Städten rezensiert…
Die Zauberflöte war eine Ausnahme. Zunächst einmal reist mein Assistent immer mit. Zweitens ist die Hälfte der Versionen entweder eine Gastproduktion von uns oder die Besetzung ist von uns. Die Zauberflöte erscheint nirgends, wo wir nicht beim Casting mitreden: es ist Teil des Vertrags mit dem Haus. Lassen Sie mich ein Beispiel geben, wo alles perfekt geklappt hat, und eins, wo es ein bisschen schief gelaufen ist.
Nächstes Jahr inszeniere ich Agrippina für die Münchner Opernfestspiele, mit Ivor Bolton und einer tollen Besetzung. Plötzlichen haben wir erfahren, dass Covent Garden und Amsterdam als Koproduzenten mitwirken wollen, und in ein paar Jahren vielleicht Hamburg. Ich habe jetzt eine Klausel in meinem Vertrag, die besagt, dass Häuser meine Inszenierung nicht ohne meiner Mitsprache besetzen dürfen. Ich würde es natürlich bevorzugen, wenn dieselbe Besetzung immer mitreist, aber das ist unmöglich, also war ich beim Casting in London und Amsterdam dabei, es gibt einige Unterschiede in den Besetzungen, aber es gibt eine gewisse Kontinuität.
Das Carmen-Problem in London war, dass die Besetzung bereits feststand, bevor sich Covent Garden für meine Inszenierung entschieden hatte. Wir sind also jetzt in einer kniffligen Situation, und so sehr ich Covent Garden liebe, oft versuchen sie das Eckige ins runde Loch zu stopfen. Ich bin Covent Garden sehr dankbar, dass sie es übernehmen, aber ich habe sie gewarnt, ich habe gesagt „Wisst ihr, wie schwierig es ist, es auf die Beine zu stellen?”
Ich muss zugeben, dass ich jede Ihrer Inszenierungen geliebt habe, bis auf diese Carmen in Covent Garden, die ich hasse...
Aber Sie müssen sich die Version in Frankfurt ansehen. Erstens ist Frankfurt kleiner, was dem Haus hilft. Zweitens haben Constantinos Carydis, der Dirigent, und ich zwei Jahre daran gearbeitet, und das gesamte Konzept und die Inszenierung wurde für Paula Murrihy, die irische Mezzosopranistin, entworfen. Wir haben nie daran gedacht, dass es ein Leben außerhalb Frankfurts und ohne Constantinos und Paula haben würde, und plötzlich war es dieser riesiger Erfolg in Frankfurt, Ich meine riesig. Jede Entscheidung, die wir für die Inszenierung und die Show getroffen haben, hatte mit Paula zu tun. Dieses berühmte Schulterzucken am Ende war mit Paula nie ein „Who gives a f**k?” oder „Es ist alles ein Scherz, oder?”, niemals in einer Million Jahren war das meine Intention. Erstens ist das nicht, was das Schulterzucken ist: wenn Paula es gemacht hat, war das mit einer solchen Doppeldeutigkeit und einem solchen Schauder, es war so seltsam und so wunderbar, dass es irgendwie Sinn gemacht hat.
Es ist das Gleiche, wenn Michael Volle nicht meinen Hans Sachs in Bayreuth singt. Es ist vertraglich festgelegt, dass er die Rolle bis 2021 singt und er liebt sie: die Produktion wurde für Michael geschaffen. Natürlich kann jemand anderes kommen und Sachs singen, aber er hätte nicht ansatzweise das Format von Michael.
Ihre Meistersinger haben mich umgeworfen. Aber ich finde es schwer zu glauben, dass die Einbildung, die mich von Anfang an gefesselt hat – die Personen, die aus dem Klavier herauskommen – während den Proben entstanden ist…
Nein, so war es nicht. Man kann nicht einfach nach Bayreuth kommen und eine Inszenierung so angehen wie hier an der Komischen, oder in München oder Frankfurt. Erstens sind die Stücke konzeptionell zu schwierig, um alles im Probenraum zu machen, und zweitens hat man nur eine begrenzte Zeit, weil es dort auch andere große Werke Wagners gibt und der Probenplan ein Albtraum ist. Man hat eine so große Aufmerksamkeit, Analyse seiner Arbeiter, man kann hier nicht einfach gewisse Dinge riskieren. Im Falle der Meistersinger hatten wir also bereits eine Reihe an Dingen erarbeitet. Wir wussten, dass Wahnfried in den Nürnberger Versammlungsraum übergehen würde. Ich wusste, dass es ein Klavier geben wird, und dass Leute davon heraussteigen würden. Wo? Keine Ahnung. Wann während des Akts? Keine Ahnung. Wer? Keine Ahnung. Wir wussten, dass wir einen riesigen Kopf des antisemitischsten jüdischen Gesichts haben werden, dass wir finden können, und ich habe immer gewusst, dass es Heißluft sein würde, weil das die Metapher war. Aber nicht, wann es aufsteigen würde, oder in welchem Teil der Musik (ursprünglich war es früher geplant). Und wir haben niemals, nicht in einer Million Jahren gedacht, dass wenn man die Luft herauslässt, das Publikum als Letztes nur diese Nase und diese Augen sehen würde, weil es gerade das ist, was es so erschreckend macht.
Wann haben Sie das herausgefunden?
In der technischen Probe. Und ich habe gedacht „Oh mein Gott, wie fabelhaft ist das denn?”. Aber Theater dreht sich nunmal um diese Dinge. Es ist zu einem Großteil Glück und Zufall. Alle meine Lieblingsmomente in meinen Inszenierungen sind während den Proben entstanden. Das Carmen-Schulterzucken entstand in Woche 5. Genau das reizt mich an der Oper, Ideen zu erschaffen und diese im Probenraum zu entwickeln. Alles andere ist zweitrangig.
...Teil 2 des Interviews folgt, mit Koskys Gedanken über das Publikum, die Opernindustrie und seine Zukunft…
Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.