War es eine glückliche Fügung oder einfach nur Zufall? Während der Vorbereitung auf mein Interview mit der Geigerin Anna Neubert entdeckte ich, dass wir beide beim selben Geigenprofessor an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln studiert haben. Das war der ideale Einstieg für ein Gespräch mit dieser vielseitigen Künstlerin, die für sich den Begriff der „Geigerin“ neu definiert und erweitert, und die mit Vorliebe außergewöhnliche Konzertsettings bespielt, inszeniert und infiltriert.
Anna Neubert ist eine klassisch geschulte Geigerin, Ensembleleiterin und Konzertregisseurin. Sie studierte in Köln, zuletzt bei Barnabas Kelemen und Barbara Maurer und erhielt wichtige Anregungen während eines Auslandsjahres in Paris und auf Meisterkursen bei Donald Weilerstein und Igor Ozim. Ihr Interesse an zeitgenössischer Musik führte sie mehrmals zur Lucerne Festival Academy. „Ich möchte das, was man als Interpretin tut, etwas weiter gefasst denken und den Gestaltungswillen nicht nur auf die klangliche Ebene, sondern auch auf weitere Ebenen ausdehnen.“ Deswegen gilt ihr besonderes Interesse den interdisziplinären Konzertformen und der Entwicklung neuer, hybrider Werke zwischen Komposition und Choreographie. Über die Beschäftigung mit Tanz und Theater, aber auch mit zeitgenössischem Zirkus entwickelte sich in Neubert der Drang auch mitzugestalten, auf welche Weise Musik dargeboten wird. Konzerte beinhalten „immer auch theatrale Momente“, erklärt sie, „manche gewollt, manche ungewollt.“ Daraus erwuchs für sie die Frage: „Wie kann man in diese sowieso schon vorhandenen verschiedenen Ebenen eines Konzerts weitere Elemente integrieren, die eben möglicherweise auch insbesondere bei zeitgenössischer Musik einen Zugang zu auch sehr komplexer Musik ermöglichen?“
Ihr spartenübergreifendes Bachelorkonzert Seiltänzer wurde 2013 mit Bestnote ausgezeichnet; seither übernahm sie die Konzertregie bei Projekten in Kooperation mit dem Kölner Verein für zeitgenössischen Zirkus, dem ZAMUS Köln, bei den Schwetzinger Festspielen, dem AchtBrücken Festival in Köln, in der Bundeskunsthalle Bonn und der Villa Massimo in Rom. Gleichzeitig konzertiert Neubert mit ihrem Ensemble uBu, macht Produktionen mit den Jungen Opern Düsseldorf und Dortmund, aber auch in Duos mit dem Gitarristen Leonhard Spies und mit der Sopranistin Marie Heeschen (in einer szenischen Fassung von Kurtágs Kafka-Fragmenten). In der Band Tovte genießt sie neben der Erkundung der Klezmerwelten auch eine andere langjährige Leidenschaft, die Tangomusik. Auszeichnungen und Förderung folgten u.a. beim Internationalen Alois Kottmann Wettbewerb und durch die Konzertförderung Yehudi Menuhin Live Music Now. 2016 gewann sie mit Trio uBu den Boris Pergamenschikow-Preis und erhielt 2018-2020 das stART.up-Stipendium der Claussen-Simon-Stiftung.
Bei der Konzeption von Konzertprogrammen gilt es für Anna Neubert, alle Parameter der Aufführungssituation mitzugestalten. „Ich möchte meinem Publikum die Möglichkeit geben, einzelne Werke besonders intensiv und neuartig zu erleben.“ Im heutigen zweiten Lockdown fühlt sich die junge Geigerin im Gegensatz zum Frühjahr verpflichtet, wieder aktiv zu werden und stellt sich bei allen Aktivitäten die Frage: „Was wird gebraucht und was wird vielleicht nicht mehr gebraucht, was ich früher immer dachte, was gebraucht wird.“
Trotz aller Beschränkungen plant sie Proben, Projekte und Fernkonzerte. Für die Junge Oper Düsseldorf spielt sie momentan in dem Projekt Kreative Pause, wo Kurzkonzerte für junges Publikum interaktiv per Zoom stattfinden. Ursprünglich sollte dieses Projekt während der Pausen in Schulen stattfinden. Nun wird es den Schülern übers Internet angeboten werden.
Gleichzeitig probt Neubert mit dem Klaviertrio uBu für ein Konzert im Beethovenhaus Bonn im März. Das Trio bildet die eine Hälfte ihres Ensemble uBu, das durch drei TänzerInnen und eine Kostümgestalterin komplettiert wird. Mit diesem Ensemble, das seinen Namen Zimmermanns Klaviertrio Présence aus dem Jahre 1961 verdankt, geht es Neubert darum, aktuelle Musik körperlich erlebbar zu machen. Es ist ein Ballet blanc in fünf Szenen, für das Zimmermann in der Einleitung kurz eine Bühne mit drei Figuren beschrieb: Don Quichotte, Molly Bloom und (Roi) Ubu. Zimmermann beschränkte sich auf diese wenigen szenischen Bausteine und überlässt den Rest der Präsentation seinen Interpreten. Diesen Freiraum nutzt Neubert in vollen Zügen. Dank eines Stipendiums der Kulturstiftung des Bundes experimentiert uBu aktuell mit 360°-Musikvideos, die in den Räumen der Kölner Philharmonie gedreht werden.
Durch Kompositionsaufträge, wie das Werk Calling Sirens von Huihui Cheng, mit der sie seit 2018 eine enge Zusammenarbeit verbindet, entstanden bereits weitere Werke für uBus besondere Besetzung. In den letzten Jahren weitete Neubert den Interpretationsspielraum mit ihren Ensembles zu Erlebnisräumen aus. Es reizt sie, „mich und mein Publikum in neue Situationen zu werfen, in denen neue Denkräume und Gefühlswelten musikalisch erforscht werden können.“
Ein anderes ihrer Projekte beschäftigt sich mit Musik und Webkunst. Diese „Weaving Concerts” sind entstanden in der Zusammenarbeit mit der Textilkünstlerin Nicole Kiersz, die sie durch das Stipendium der Claussen-Simon Stiftung kennengelernt hatte. „Der Webstuhl ist die älteste digitale Maschine der Welt“, klärt sie mich auf. Die zwei möglichen Zustände, die im Binärcode durch 0 und 1 dargestellt werden, sind beim Weben entweder der oben liegende Schussfaden oder der oben liegende Kettfaden. Gemeinsam mit Kiersz recherchierte sie über die Schnittstellen zwischen Musik und Webkunst. Inspirierende Übereinstimmungen fanden die zwei in der Notation und in der Sprache, in der man über ein Musikstück und ein Webstück spricht. Für die Zukunft träumt sie „von einem groß angelegten Konzertzyklus über Websounds/Webklänge, in dem ein Stück für Streichorchester und Webstuhl zentral stehen könnte.“
In einem von ihr konzipierten Konzert der Reihe INTERVALL der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen konnte das Publikum die aphoristische Musik Anton Weberns aus der Musikerperspektive erleben. Neubert ließ während des Konzerts eine Tänzerin auf einige kurze Passagen aus Weberns Streichquartett mit dem Publikum zusammen Bewegungsabläufe einstudieren. Durch das wiederholte aktive Zuhören und Mittanzen bekamen die Konzertbesucher somit nicht nur, wie in herkömmlichen Konzerten üblich, einen einmaligen Höreindruck sondern lernten durch die eingeübten Tanzbewegungen Weberns Musik in all ihren Facetten kennen. Gleichzeitig tauchten sie intensiv in die Feinheiten der Partitur ein. „Als Musikerin erlebt man beim Musizieren die Musik in Bewegung, im Gegensatz zum Publikum, das in der Regel bewegungslos in seinem Stuhl sitzt“, erklärt sie. Mit ihrem neuen konzertdramaturgischen Ansatz möchte Neubert es auch ihrem Publikum ermöglichen, „Musik in Bewegung zu erfahren.“ Zudem ist sie überzeugt, dass das Publikum zu jeder Konzertsituation seinen eigenen Beitrag liefert. Daher interessiert es sie, Formate zu entwickeln, in denen ein heterogenes Publikum aufeinander treffen kann. „Sei es, dass einerseits der Raum andererseits das Programm verschiedene Leute anzieht, sei es dass durch einen interdisziplinären Ansatz Menschen zusammen kommen, die an unterschiedlichen Kunstdisziplinen interessiert sind. Tanzbegeisterte kommen so vielleicht erstmals in den Genuss einer zeitgenössischen Komposition, Konzertgänger fühlen sich vielleicht zunächst abgelenkt durch die Tanzelemente. So können unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen aufeinander treffen.“ Bei einem produktiven Austausch zwischen den Disziplinen entstehen so für beide Gruppen beim gemeinsamen Kunsterlebnis neue Perspektiven und Erfahrungen. Diese wirken in Neuberts Augen nicht nur horizonterweiternd, sondern schärfen die Sinne und stimulieren emotionale und soziale Fantasie.
Warum – so möchte ich von ihr wissen – halten selbst viele Neue Musik-Ensembles an den herkömmlichen Konzertgepflogenheiten fest? „Das liegt an einem veralteten Musikbegriff“, meint Neubert. Musik gilt darin als vergeistigt und intellektuell. Diese Denkrichtung will komponierte Musik als ein rein gehörtes Ereignis wahrgenommen und verstanden wissen. Auf dieser Basis hat sich in den letzten 40 Jahren ein Spezialistentum entwickelt. Neubert, als Angehörige der heutigen jungen Generation, lehnt sich dagegen auf. Sie versteht sich als eine Spezialistin für einzelne Werke und sieht sich nicht zugehörig zu einem abgeschlossenen Kosmos der alten oder neuen Musik. „Die Freiheit von möglichen Querverbänden führt zu spannenden Interpretationsergebnissen und erweitern den musikalischen Horizont von Musikern und Publikum.“
Aus der Improvisation schöpft Neubert Inspirationen, sie hat Erfahrungen damit gesammelt vor allem in der Kölner Impro-Szene. Aber die Auseinandersetzung mit bestehenden Werken reizt sie aktuell mehr. „Ich möchte den improvisatorischen Ansatz lieber auf die Interpretation selbst übertragen.“
Sieht sie sich als Konzertgestalterin, -designerin oder gar -dramaturgin? Viel wichtiger ist für Neubert die Frage: „Wie kann ich den Begriff der Geigerin erweitern? Im 21. Jahrhundert heißt das für mich, die Parameter des Konzerts mitzugestalten.“ Die Stellung der Konzertpädagogik sieht sie schon längst im Wandel begriffen. „Die Tendenz geht weg von einer kolonialisierender Haltung mit einem Sendungsbewusstsein auf Seiten der ‚Experten‘. Es geht mir darum, niedrigschwellige voraussetzungslose Erlebnisräume zu schaffen.“ Damit geht die Entwicklung weg von der Unterscheidung Vermittler/Musiker hin zu beidem in Personalunion. Musikerinnen von heute haben ein immer größeres Interesse daran, dass sowohl die gespielten Werke, als auch der gewählte interpretatorische Ansatz vom Publikum verstanden wird. Darum suchen sie sich Mittel und Wege, mit denen die musikalischen Inhalte leichter kommunizierbar sind.
Blickt man in die Zukunft, hat Neubert diverse Pläne um ihre Pionierarbeit mit Konzertperformances zwischen Musik und Tanz fortzusetzen mit dem Ziel, auch festgefahrene Rollen im Konzertbetrieb zu hinterfragen. Sie sucht ständig Antworten auf die Frage: „Was kann alles im Konzertrahmen passieren, wenn ich Körper und Bewegung in den Fokus mitnehme? Wie initiiert man in diesem Zusammenhang etwas wirklich Neues?“ Sie fühlt sich dabei gestärkt durch Gleichgesinnte in der heutigen lebendigen jungen Szene. Als Beispiel nennt sie die Plattform www.betterconcerts.org, auf der viele Ideen geteilt werden und die vor Kreativität sprüht. „Aber,“ sagt sie, „man braucht die Unterstützung der großen Akteure!“
Wenn man den musikalischen Inhalten eine bleibende Relevanz geben will, dann muss man neue Darstellungsmittel und Konzertformate finden. Ich habe nach unserem 60-minütigen Gespräch keinerlei Zweifel darüber, dass Anna Neubert für sich selbst und uns diese neuen Darbietungsformen entdecken und etablieren wird!
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Mit dem Projekt Young Artists To Watch möchte Bachtrack junge Künstler aus aller Welt ins Rampenlicht rücken, die aufgrund der durch die Pandemie verursachten Einschränkungen vielleicht nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient hätten.
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