„Ich kann mich erinnern, dass ich es als Teenager im Radio gehört habe und dachte: ,Nicht schon wieder The Lark Ascending’”, erzählt die Geigerin Jennifer Pike und beschreibt damit eine Erfahrung, die viele Geiger machen. Als Kind war es eines dieser Stücke, die immer im Hintergrund zu laufen schienen, ein hübsches Pastorale für lange Autofahrten. Ralph Vaughan Williams' Dauerbrenner hat mehr Kontroversen ausgelöst, als er vielleicht verdient, und damit endlose Twitter-Debatten entfacht. Ich hatte es jahrelang geschafft, die Lerche zu meiden, eine bemerkenswerte Leistung für einen in London lebenden Geiger, aber dieses Jahr bekam ich eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen wollte. Wie sollte ich ein Stück lernen, das ich so lange gemieden hatte?
Glücklicherweise hatte ich Zugang zu drei großartigen Lark-Interpretinnen: Jennifer Pike, Elena Urioste und Fenella Humphreys, die nicht nur eine Fülle an Aufführungserfahrung mitbrachten, sondern auch ähnliche Prozesse bei der Auseinandersetzung mit dem Stück teilten. „Ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, in der ich es nicht kannte”, sagt Humphreys, „aber woran ich mich erinnere, ist, dass ich eine ziemlich schlechte Meinung davon hatte, und das ohne guten Grund!” Pike erzählt eine ähnliche Geschichte: „Es war einfach immer da, und in gewisser Weise hat das meine Wahrnehmung der Musik getrübt. Als ich 15 war, wurde ich gebeten, es zu spielen, und ich war so abgeschreckt von der schieren Popularität, dass ich es gar nicht machen wollte.” Obwohl Uriostes erste Eindrücke des Werks positiver waren, brachte es eine Reihe von Herausforderungen mit sich. „Ich habe das Stück als Teenager immer geliebt”, sagt sie, „und ich fühlte mich von der Herausforderung angezogen, diese Reinheit des Stücks zu verkörpern. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass es für mich eine echte Herausforderung in Sachen Intonation sein würde, da ich als Teenager viel damit zu kämpfen hatte. Man kann sich einfach nirgends verstecken!”
Was hat also ihre Meinung geändert? „Man kann nicht mit einem verschlossenen Blick an die Sache herangehen”, sagt Humphreys. „Was auch immer meine Vorurteile gegenüber einem Stück sind, ich werfe sie aus dem Fenster und gehe mit offenen Augen an es heran. Als ich angefangen habe, mir Lark genauer anzusehen, habe ich gemerkt, wie klug es geschrieben ist! Eines der Probleme mit dem Stück ist, dass wir als Geiger immer versuchen, die Dinge schön klingen zu lassen, aber wenn man wirklich das spielt, was Vaughan Williams in der Partitur geschrieben hat, mit all diesen extrem leisen Dynamiken, wird es zu einem völlig anderen Stück.”
„Es ist unglaublich raffiniert geschrieben, vor allem rhythmisch”, stimmt Urioste zu. „Man sieht instinktiv die Markierung senza misura und nimmt den kadenzartigen Charakter wörtlich, aber ich glaube, Vaughan Williams hat diese sehr spezifischen Notenwerte aus einem bestimmten Grund geschrieben. Jedes Mal, wenn ich mich damit befasse, spiele ich sehr präzise, fast metronomisch, und lasse die entstehenden Muster ihre eigene Bildsprache schaffen.” Vaughan Williams strukturiert das Stück um drei große Kadenzen ohne Taktstriche, eine für die damalige Zeit überraschend radikale Entscheidung. „Es ist ein so originelles Konzept”, erklärt Pike, „diese drei großen Kadenzen zu haben, die das Stück einrahmen. Man hat so viel Freiheit mit dem Rhythmus, und es fühlt sich selbst dann improvisiert an, wenn man sich an das hält, was auf dem Papier steht. Ich war schockiert, als ich das Stück zum ersten Mal gespielt habe, weil es damals eine so fortschrittliche Idee war. Es gibt Einflüsse aus dem Jazz, aus der Volksmusik, nicht nur im Hinblick auf den Rhythmus, sondern auch auf die Harmonien. Vaughan Williams nimmt diese sehr modernen Ideen auf und verwandelt sie in seine eigene musikalische Sprache.”
Obwohl Lark ursprünglich für Violine und Klavier komponiert wurde, wird es meist in Vaughan Williams' eigener Bearbeitung für Violine und Orchester aufgeführt. „Jede Version bringt ihre eigene Klangwelt mit sich”, erklärt Pike. „Mit Klavier ist es die intimste. Anstelle der langen gehaltenen Linien, die man mit dem Orchester bekommt, hat man diese vertikalen, glockenartigen Klänge, die wunderbar zu dem ländlichen Charakter des Stücks passen.” Humphreys bevorzugt das Zusammenspiel mit einem Orchester, egal ob Kammer- oder Symphonieorchester. „Mit einem Kammerorchester ist es intimer, aber mit einem großen Orchester hat man diese unglaubliche klangliche Unterstützung im Hintergrund. So oder so liebe ich die Gespräche zwischen der Solovioline und den Holzbläsern, wenn die Melodie auf der Bühne herumgereicht wird!”
Es gibt auch ein Arrangement für Violine und Chor, das sowohl Pike als auch Urioste kürzlich eingespielt haben. „Bei dieser Aufnahme bin ich zum ersten Mal mit dem Chorarrangement in Berührung gekommen”, sagt Urioste, „und ich habe darüber nachgedacht, ob ich meine Spielweise ändern müsste. Aber es hat so wunderbar funktioniert und sich so nahtlos auf die Stimme übertragen - ich musste nichts an meinem Part ändern!”. Pike hatte eine ähnliche Erfahrung mit dem Chorarrangement. „Ich dachte, es sei eine absolut verrückte Idee! Aber ich war absolut überwältigt von der Erfahrung und davon, wie die Klangfarbe des Chors dem Stück neue Ebenen verleiht. Ich war schon immer der Meinung, dass sich Lark wie gesungen anfühlen muss, aber ich glaube nicht, dass ich es bis zu dieser Erfahrung mit dem Chor richtig verstanden habe.”
Trotz aller vermeintlichen Kontroversen war Lark immer ein sicherer Publikumserfolg. „Ich glaube, das ist ein Teil des Problems mit diesem Stück”, meint Humphreys. „Es ist so bekannt, und jeder kommt mit bestimmten Erwartungen in den Konzertsaal, wie das Stück klingen soll und was es darstellt. Natürlich kommt in der Regel niemand, der das Stück hasst, aber es ist eine ebenso große Herausforderung, neue Aspekte aus einem Stück herauszuholen, das das Publikum so gut kennt und liebt.” Sowohl Pike als auch Urioste konzentrieren sich auf die meditativen Aspekte des Stücks. „Man verliert dabei jegliches Gefühl für Zeit”, erklärt Pike, „und es versetzt einen an diesen besinnlichen Ort voller Ruhe”. „Es bietet dem Zuhörer viel Raum, um ruhig zu sitzen”, stimmt Urioste zu. „Es ist die Art von Musik, bei der man projizieren kann, was auch immer man gerade fühlt oder braucht, und das ist der Grund, warum ich es als Geigerin und als Zuhörerin liebe. Wie oft haben wir schon die Gelegenheit, 15 Minuten lang zu sitzen, zu atmen und zu meditieren?”
Warum also die ganze Kontroverse? „Ich konnte es kaum glauben, als ich neulich auf Twitter die Diskussionen gesehen habe”, sagt Humphreys. „Die Leute wurden auf beiden Seiten so wütend, und das ist wirklich nichts, worüber man sich so aufregen sollte. Es spielt wahrscheinlich vieles zusammen, aber ich glaube, dass die Leute in beiden Lagern wütend darüber sind, dass dieses eine Stück immer herausgegriffen wird, entweder aus dem gesamten Œuvre von Vaughan Williams oder aus der gesamten Musik, die zu dieser Zeit in Großbritannien geschrieben wurde. Es gibt so viele fantastische Kompositionen aus dieser Zeit, die in Vergessenheit geraten sind, und wenn wir nur ein paar Aufführungen von Lark gegen einige dieser Werke austauschen könnten, würde das vielleicht für eine interessantere Musikszene sorgen!” Pike stimmt zu, dass Lark zu Unrecht in eine viel größere Debatte verwickelt wurde. „Es ist eines dieser Stücke, das aus irgendeinem Grund so viele Ängste auslöst, mit dieser Wahrnehmung, dass es Musik für Leute ist, die nichts über klassische Musik wissen. Das ist eine furchtbare Denkweise, denn Musik sollte eigentlich für alle zugänglich sein, unabhängig von ihren Kenntnissen über klassische Musik!”
Ein Aspekt, der bei allen drei Geigerinnen zur Sprache kam, war die wahrgenommene Britishness des Stücks, die es in den Mittelpunkt einer viel breiteren politischen Debatte stellt. „Als jemand, der nicht britisch ist, scheint es definitiv typisch britisch zu sein”, sagt Urioste, „aber wann immer ich es im Ausland aufführe, wird es sehr gut aufgenommen. Es ist ein Stück, das sehr offen ist, und das macht es trotz seiner vermeintlichen Britishness universell.” Unterdessen behauptet Pike, dass Lark vielleicht doch nicht ganz so britisch ist. „Ich sträube mich immer gegen die Aussage, es sei durch und durch britisch”, erklärt sie. „Vaughan Williams hat in Frankreich bei Ravel und in Deutschland bei Bruch studiert, und all diese Einflüsse waren so wichtig für seinen Stil. Und in Lark sehen wir, wie er Einflüsse aus anderen Ländern mit Jazz verbindet – es ist nicht so sehr vom Jazz beeinflusst, sondern mit harmonischen und rhythmischen Einflüssen aus der ganzen Welt verbunden. Ihn als einen fahnenschwingenden britischen Komponisten zu identifizieren, ist für mich völlig falsch.” Debatten über Nationalismus in der Musik sind nichts Neues, aber im heutigen England können sie eine viel greifbarere Form annehmen. „Es war eine sehr interessante Zeit, als ich das Stück direkt nach dem Brexit-Referendum gespielt habe,” erzählt Pike. „Ich war an dem Tag so aufgewühlt, und habe mir Sorgen gemacht, wie das Publikum reagieren würde und dass es als etwas Feierliches wahrgenommen werden würde. Aber die Reaktion des Publikums war so überwältigend – es war so emotional und kathartisch, wie eine heilende Erfahrung für uns alle auf und hinter der Bühne.”
Und was bedeutet das für mich als Lark-Skeptiker? „Bleib unvoreingenommen und tu nicht, was ich getan habe, nämlich zu schnell zu urteilen”, rät Pike. „Sieh dir die Partitur an”, schlägt Humphreys vor. „Sieh dir an, was er tatsächlich geschrieben hat, und nicht, was du glaubst, dass er geschrieben hat. Das hat meine Meinung über das Stück geändert.” Urioste wählt einen eher abstrakten Ansatz: „Lehn dich zurück, atme tief durch und gehe unvoreingenommen an die Sache heran. Es ist eines dieser Stücke, die auf subtile Weise transformativ sein können, wenn man sich auf die Erfahrung einlässt.”
Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.