250 Jahre nach Beethovens Geburt ist sein Klavierwerk noch immer ein herrliches, zutiefst verzweigtes Rätsel, ein weites Feld, auf das ich mich jeden Tag gern begebe, um immer wieder neue Perspektiven einzunehmen. Wenn ich mein Musikerleben im Spiegel Beethovens betrachte – und das liegt nahe, da Beethoven für mich das Zentrum meines musikalischen Denkens darstellt – beobachte ich in erster Linie den Gewinn an Freiheit, den ich mir durch die Beschäftigung mit seinem Leben und seinem Werk erarbeitet habe.

Rudolf Buchbinder
© Marco Borggreve

Für das Beethoven-Jubiläum 2020 habe ich mich auf zwei große Projekte gestürzt: Zum einen spiele ich die Diabelli-Variationen neu ein, gemeinsam mit einer Auswahl der 50 Variationen, die der Verleger Anton Diabelli bei Zeitgenossen wie Carl Czerny, Franz Schubert oder dem damals erst elfjährigen Franz Liszt in Auftrag gegeben hat. Außerdem habe ich neue Variationen über Diabellis Walzer in Auftrag gegeben, etwa bei Gegenwartskomponisten wie Tan Dun, Jörg Widmann oder Toshio Hosakawa. Parallel zu meinem Diabelli-Projekt habe ich auch die fünf Klavierkonzerte erneut eingespielt – mit fünf unterschiedlichen Orchestern und Dirigenten. Warum mir diese Vielfalt so wichtig war, erkläre ich später genauer, an dieser Stelle nur so viel: Ich genieße es, diese Konzerte vom Klavier aus zu dirigieren, aber noch mehr freue ich mich über den Austausch und den Dialog mit fünf unterschiedlichen Dirigenten und Orchestern. In der Vorbereitung des Jubiläumsjahres habe ich mich also im andauernden Spannungsfeld zwischen Beethovens Solo- und Orchesterwerken befunden, zwischen dem intimen und intellektuellen Diabelli-Kosmos und den großen, publikumswirksamen Klavierkonzerten.

Natürlich hat Beethoven seine Klavierkonzerte in erster Linie für erfolgreiche Aufführungen in den sogenannten Akademien vorgesehen. Hier ist er bis zum Dritten Klavierkonzert auch selber als Pianist aufgetreten und war direkt am Umsatz der Abendkasse beteiligt. Nachweisbar ist Beethoven mindestens sieben Mal mit seinen eigenen Klavierkonzerten in Erscheinung getreten, und zwar zwischen seinem Wien-Debüt im Jahre 1795 am Burgtheater und 1803 im Theater an der Wien. Bei seinem letzten Auftritt amüsiert mich besonders die damalige Kritik über das dritte Klavierkonzert: „Weniger gelungen (also neu!) war das folgende Concert aus C moll, das auch Hr. v. B., der sonst als ein vorzüglicher Klavierspieler bekannt ist, nicht zu voller Zufriedenheit des Publikums vortrug.“ Es ist beruhigend, dass auch diese Kritik dem Anliegen Beethovens, das Wiener Publikum zu begeistern, am Ende nicht im Wege stand.

Die Solo-Werke, besonders die späten Stücke wie die Diabelli-Variationen, hatten einen ganz anderen Zweck. Auch sie gingen natürlich in Druck und sollten sich verkaufen, aber sie blieben für einen Großteil der Wiener Laien-Musiker weitgehend unspielbar, und selbst auf den professionellen Konzertpodien wurden sie lange gemieden. So führte Hans von Bülow die Diabelli-Variationen erst knapp 30 Jahre nach ihrer Vollendung und lange nach Beethovens Tod zum ersten Mal öffentlich auf. Man könnte also sagen: Während Beethoven in seinen Konzerten das Publikum direkt berühren wollte, waren seine späteren Solo-Werke immer auch theoretisch-praktische Studien über die Musik an sich, über ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ein Ausloten der Möglichkeiten ihrer harmonischen Zukunft.

Handschrift Beethovens Kadenz zum Dritten Klavierkonzert
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Als ich mich im Zuge des Beethoven-Jubiläums wieder intensiv mit den Klavierkonzerten auseinandergesetzt und ihre Entstehungsgeschichte nachvollzogen habe, ist mir etwas sehr Spannendes aufgefallen. Es betrifft die Kadenzen. Schaut man sich die Kompositionsspanne vom Ersten Klavierkonzert im Jahre 1794 bis zum Vierten Konzert im Jahre 1804 an, ist auffällig, dass Beethoven alle Kadenzen zu den Klavierkonzerten erst in den Jahren 1808/09 komponierte – und zwar in sehr dichter Folge. In einer Zeit also, als er das kadenzlose Fünfte Klavierkonzert beendet hatte, sich zeitgleich mit den Kadenzen für Mozarts d-Moll-Konzert beschäftigte und die Kadenz für die Klavierfassung seines (im Original ebenfalls kadenzlosen) Violinkonzerts erfand. Es liegt auf der Hand, dass Beethoven – um es leger zu sagen – irgendwann einen „Fimmel“ bekommen haben muss, in dem es für ihn wichtig war, seine wesentlichen Werke quasi in einem Schwung mit ausgeschriebenen Kadenzen zu „bestücken“.

Dabei hat er – und das finde ich faszinierend – das Komponieren von Kadenzen fast zu einer eigenen Kunstform erhoben. Besonders prägnant ist das in der Kadenz zum zweiten Klavierkonzert zu hören, die in Länge und Spektakel fast schon ein eigenes Werk darstellt.

Es ist auffällig, dass Beethoven in den 19 Jahren, die er nach Beendigung des Fünften Klavierkonzertes noch lebte, darauf verzichtete, ein weiteres Werk dieser Gattung in Angriff zu nehmen. Vielleicht schien ihm diese – gegen die Symphonie konkurrierende Form – nach Vollendung des Fünften Konzertes einfach nicht mehr geeignet, dem eigenen revolutionären Klangideal zu entsprechen. Seine kompromisslose Radikalität legte er fortan lieber in seine Streichquartette, die späteren Sonaten oder in Klavierwerke wie die Diabelli-Variationen.

Um die ersten Klavierkonzerte besser zu verstehen, ist der Gedanke der Kadenzen ebenfalls hilfreich, denn es ist auffällig, dass Beethovens genialischen Coda-Teile meist auf die Kadenzen folgen, jene Momente in denen er uns in das Licht der Unendlichkeit blicken lässt und auf offener Bühne für Gänsehaut und Tränen sorgt. Im Ersten Konzert ist es der Dialog mit der Klarinette, im Zweiten die Coda des zweiten Satzes, bei der ich bis heute nicht verstehe, wie ein so junger Mensch derart reife und weise Musik erfinden konnte. Im Dritten Konzert ertönt die Coda im ersten Satz quasi nur noch als elegische Reminiszenz, und im ersten Satz des Vierten Klavierkonzertes im Dialog mit der Oboe. Beethoven gelingt es in all diesen magischen Momenten auf wundersame Weise immer wieder, die Zeit stehen zu lassen.

Um so wichtiger erscheint es mir, in den Schriften von Beethoven-Schüler Carl Czerny nachzuschlagen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Beethoven selber seine Klavierkonzerte angegangen ist. Denn das ist ja das Großartige an Beethoven, er war selber ein begnadeter Klavier-Virtuose und verfügte über ein kompositorisches Handwerk, durch das er uns genau mitteilen konnte, was er von uns Interpreten erwartet. Zum Beispiel reichte es ihm oft nicht, nur einmal ein Pianissimo vorzuschreiben. Stattdessen gibt es Passagen, in denen Beethoven uns alle zwei Takte an das Pianissimo, das er fordert, erinnert. Fast so, als würde er in die Partitur schreiben: „Ich kenne Dich, mein lieber Klavierspieler-Kollege, aber nur, weil diese Stelle schnell ist, musst Du noch lange nicht lauter werden!“ Es ist mir unverständlich, dass diese Wiederholungen in einigen Beethoven-Editionen einfach weggelassen wurden.

Rudolf Buchbinder
© Philipp Horak

Ich werde oft gefragt, woran ich bei der Interpretation eines Beethoven-Stückes denke. Meine Antwort ist simpel: Das Denken muss lange im Vorfeld stattgefunden haben. Sobald man die erste Note anschlägt, befindet man sich bei Beethoven in professionellen Händen, dass man gut beraten ist, ihm einfach nur noch zu folgen. Kaum ein anderer Komponist navigiert uns mit seinen konkreten Spielanweisungen so sicher über die weiten Meere seiner Kreativität wie Beethoven. Alles, was er von uns verlangt, ist: Wissen und Vertrauen!

Im Falle der Klavierkonzerte können wir zum Glück auf die Beschreibungen von Carl Czerny zurückgreifen, dessen Schrift Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethoven’schen Klavierwerke ich jedem Klavierspieler nur empfehlen kann. Besonders wichtig – quasi ein Leitmotiv in der Beschreibung der Klavierkonzerte – ist bei Czerny die redundante Mahnung, dass Beethoven stets davor warnte, ins Schleppen zu geraten, etwa im Adagio des Fünften Klavierkonzerts.

Beethoven sei bei der Komposition von „religiösen Gesängen frommer Wallfahrer“ inspiriert gewesen, lässt Czerny uns wissen, „und der Vortrag dieses Satzes muss völlig die heilige Ruhe und Andacht ausdrücken, die in diesem Bilde liegt. Das Adagio (alla breve) darf nicht schleppend gehen …“ Es ist an dieser Stelle übrigens ratsam, das Wort „Adagio“ nicht als Aufforderung zum Schleppen zu verstehen, sondern es wörtlich zu begreifen als „Adagio“, es also „zum eigenen Komfort“ zu spielen.

Es sind oft kompositionspraktische Kleinigkeiten, an denen wir ablesen können, was Beethoven von uns will. So beginnt der zweite Satz des Fünften Klavierkonzertes in der – inzwischen zum Glück zugänglichen – Handschrift mit einem Bogen, der sich über die ersten beiden Takte erstreckt. Es wäre grundsätzlich falsch, diesen Beginn – wie es von einigen Orchestern gern gemacht wird – in zwei Bögen (einen pro Takt) aufzuteilen. Denn nur ein Strich garantiert, dass in den Streichern nicht geschleppt wird, da alle Noten auf einem Bogen untergebracht werden. Mich faszinieren – besonders, wenn ich die Konzerte dirigiere – diese kleinen, handwerklichen Momente, aus denen wir für unsere Interpretation so unendlich viel lernen können.

Natürlich zeichnen sich die Klavierkonzerte nicht nur durch ihre jenseitigen Momente aus. Mindestens genau so genialisch spielt Beethoven mit den großen, pathetischen und heroischen Gesten oder mit den für ihn so typischen Swing-Elementen, wie ich sie gerne nenne. Davon gibt es in jedem Konzert mindestens einen: Ich erinnere an die dritten Sätze der ersten beiden Konzerte oder an die „Off-Beat-Konstellation“ im Fünften Klavierkonzert, in der die rechte Hand im 3/4-Takt spielt, während die andere den 6/8-Takt bedient.

Rudolf Buchbinder
© Marco Borggreve

Grundsätzlich finde ich, dass Beethovens fünf Klavierkonzerte sich dadurch auszeichnen, dass sie vollkommen unterschiedlich sind. Dass sich in ihnen – anders als bei Mozart – keine eindeutige Entwicklung ablesen lässt. Sie sind eigenständige Werke mit unterschiedlichen Temperamenten. Und genau das war für mich auch ein Grund, die Konzerte im Jubiläumsjahr 2020 mit fünf verschiedenen Orchestern und fünf unterschiedlichen Dirigenten aufzunehmen. Das Erste Klavierkonzert, dessen zweiten Satz ich gern Beethovens „Klarinettenkonzert“ nenne (Beethoven verwendet hier erstmals Pauken, Trompeten und Klarinetten im Orchester), habe ich mit Andris Nelsons und dem Gewandhausorchester aufgenommen. Das Zweite Konzert, das Beethoven ebenfalls für den „Eigengebrauch“ als Pianist geschrieben hat, und das für mich den endgültigen Übergang von Mozart in eine neue Epoche darstellt, war leider das letzte Konzert, das ich mit meinem Freund und Seelenverwandten, mit dem einmaligen Dirigenten Mariss Jansons und seinem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aufnehmen durfte. Vielleicht beschreibt die Coda des zweiten Satzes dieses Konzertes jene Welt, in der sich Mariss inzwischen aufhält: im Licht der Unendlichkeit. Das Dritte Klavierkonzert habe ich mit Valery Gergiev und den Münchner Philharmonikern eingespielt, beim Vierten, das gemeinhin als Beginn der Verschmelzung von Symphonie und Konzert verstanden wird, steht Christian Thielemann der Sächsischen Staatskapelle Dresden vor, und das Fünfte Klavierkonzert (das bei seiner ersten öffentlichen Aufführung von Carl Czerny am Theater am Kärntnertor interpretiert wurde) habe ich mit Riccardo Muti und den Wiener Philharmonikern aufgenommen.

Die Musik Ludwig van Beethovens begleitet mich ein Leben lang, und ist zu einer Art Spiegel meiner musikalischen Entwicklung geworden. Bei mir zu Hause in Wien steht eine Beethoven-Büste auf dem Flügel. Und immer, wenn ich übe, schaue ich diesen mir so nahen Menschen an, seinen grimmigen Blick, seine wilden Haare und seine neugierigen Augen – und danke ihm leise dafür, dass er mir schon so lange zuhört und Verständnis für all meine Irrungen und Wirrungen hat, mit denen ich voller Verehrung durch sein Werk treibe.


Rudolf Buchbinder spielt diese Saison mehrere Zyklen der Beethoven-Klavierkonzerte mit den Wiener Symphonikern, dem Orquestra Simfònica de Barcelona, Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai, den Bamberger Symphonikern und der Staatskapelle Dresden. Buchbinder ist Ehrenmitglied der Wiener Philharmoniker, der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, der Wiener Symphoniker und dem Israel Philharmonic Orchestra. Seit der Gründung 2007 ist Buchbinder Künstlerischer Leiter des Grafenegg Festivals. Klicken Sie hier für alle zukünftigen Veranstaltungen Rudolf Buchbinders.