Wie jeden Januar bringt Ihnen Bachtrack das Jahr in Statistiken: die Welt der klassischen Musik, oder natürlich die Welt der klassischen Musik, wie sie 2018 von 33.578 Konzerten, Opern und Tanzveranstaltungen in unserer Datenbank widergespiegelt wird. Hier finden Sie unsere vollständige Infographik, aber hier sind einige Dinge, die uns ins Auge gefallen sind:
Bernsteins Kassenschlager-Geburtstag
2018 war Leonard Bernsteins hundertster Geburtstag, und er wurde rund um die Welt mit einem solchen Enthusiasmus gefeiert, dass Lenny auf Platz 3 der meistaufgeführten Komponisten kam (hinter den üblichen Verdächtigen, Beethoven und Mozart, auf Platz 1 und 2). Wir haben Paul Epstein, Senior Vice President der Bernstein Foundation, gefragt, was er über diese außergewöhnliche Leistung zu sagen hat:
„Unser Ziel war es, Leonard Bernsteins Musik der nächsten Generation näherzubringen [...] und dass mehr junge Menschen über ihn Bescheid wissen. Wir haben auch gehofft, dass Lennys Musik als Ganzes betrachtet wird, was seine Musik wert war, wovon sie handelt. Wir glauben, wir haben Lenny nicht enttäuscht.”
Der enorme Anstieg von Bernstein auf Bachtrack lag zum Teil am eifrigen Eintragen von Bernstein-Veranstaltungen durch die Foundation, aber viele weitere wurden auch abseits dieser Liste eingetragen. Um das Andenken an ihren Vater zu ehren, war die Bernstein-Familie besonders großzügig mit ihrer Zeit und reiste weltweit, um den Sonderveranstaltungen in Lennys Namen beizuwohnen. An einem einzigen Tag, dem 24. November, haben wir Bernsteins Töchter Nina und Jamie bei der Premiere von Candide an der Komischen Oper getroffen, während ein weiterer Rezensent Bernsteins Sohn Alexander in der Chichester Cathedral für Chichester Psalms antraf. Vier der fünf meistaufgeführten Werke stammen von Bernstein, seine Symphonic Dances aus West Side Story errangen sogar den begehrten ersten Platz. Candide landete auf dem 11. Platz der meistaufgeführten Opern/Operetten.
Komponistinnen: Aufstieg von einer schwachen Ausgangslage
Frauen in der Musikwelt erregen weiterhin unsere Aufmerksamkeit. In den 2.891 zeitgenössischen Orchesterwerken, die letztes Jahr gespielt und in unsere Datenbank eingetragen wurden, stammten nur 12,8% von Frauen, mit großen Abweichungen zwischen den Ländern. In Deutschland und Frankreich ist die Zahl erschreckend gering, unter 5%, und steht in starkem Kontrast zu Schweden, wo 37% aller zeitgenössischen Werke von Frauen stammen (ein Blick auf die Saison des Royal Stockholm Philharmonic Orchestras zeigt warum). Die Zahlen in den USA und im Vereinigten Königreich sind 16 und 17% – die US-Zahl wäre noch geringer, wenn ein Tweet von Alex Ross zum Jahresbeginn 2018 nicht das Philadelphia Orchestra beschämt hätte, mehr Werke von Frauen in ihre Saison 2018/19 aufzunehmen.
Auch Komponistinnen der Vergangenheit werden mehr und mehr aufgeführt. Wir haben uns die Top 30 Komponistinnen über einen Zeitraum von 5 Jahren angesehen: 26 von ihnen sind jetzt in den Top 400, zweimal so viel als noch vor 5 Jahren.
Leider gibt es nur wenig Orchestermusik von früheren Komponistinnen, viele von ihnen wurden darin beschränkt, was sie veröffentlichen oder was gespielt werden durfte, sie lagen ganz in den Händen ihrer männlichen Verwandten. Sogar Felix Mendelssohn-Bartholdy, der seiner Schwester Fanny so nahe stand, schrieb in einem Brief an seine Mutter, die sich für die Veröffentlichung von Fannys Werken aussprach: „Ich halte das Publizieren für etwas Ernsthaftes (es sollte das wenigstens sein) und glaube, man soll es nur tun, wenn man als Autor sein Leben lang auftreten und dastehen will. Dazu gehört aber eben eine Reihe von Werken, eins nach dem anderen… Fanny ist zu sehr eine Frau, wie es recht ist, erzieht den Sebastian und sorgt für ihr Haus… Da würde sie das Druckenlassen nur drin stören…” Er beendete den Brief mit der Anweisung, Fanny nicht zu erzählen, was er gesagt hatte, und gab ihr somit kein Recht auf eine Antwort. (1)
„Ich halte es für unglaublich wichtig, Komponistinnen aus der Vergangenheit zu finden. Als ich ein Kind war wusste ich von Clara Schumann, und sie wurde eine Art Schutzpatronin für mich, weil sie die einzige Frau war, von der ich wusste, dass sie Musik schrieb. Der Mangel an weiblichen Vorbildern trägt dazu bei, dass Mädchen nicht das Gefühl haben, dass es etwas ist, das sie tun können. Wir müssen also wirklich hart daran arbeit, um diese Auffassung zu ändern, nicht nur für die Welt im Ganzen, sondern auch damit Musikerinnen ein größeres Vertrauen finden.”
Orchester und DirigentInnen: Vielseitigkeit ist das Schlüsselwort
Der erste Platz für das aktivste Orchester geht erstmals an das britische Royal Philharmonic Orchestra. Wir haben den Managing Director James Williams gefragt, worauf er dies zurückführt:
„Wir legen in den sieben Hauptveranstaltungsorten im gesamten Vereinigten Königreich den Fokus auf ein umfassendes und abwechslungsreiches Programm. Wir freuen uns, dass wir als eines der aktivsten Orchester weltweit gewürdigt werden. Etwa 305.000 Zuhörer haben 2017/18 das RPO live erlebt, bei 143 Konzerten im Vereinigten Königreich und zusätzlichen 35 Konzerten im Ausland.”
Obwohl sie vier Monate im Mutterschaftsurlaub war, schaffte es die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla in die Top 50. Wer weiß wie viele Vorstellungen sie 2019 dirigieren kann! Ein Neuling auf der Dirigenten-Liste ist Karina Canellakis, eine Amerikanerin mit griechischen und russischen Wurzeln. Im September übernimmt sie das Chefpult beim Niederländischen Radiophilharmonieorchester und als Gewinnerin des Critics Circle “Emerging Talent Award” sollte man sie im Auge behalten.
Die Richtung der Oper
Wirft man einen Blick auf die Opernstatistiken, ist es erfreulich zu sehen, dass die zwei Regisseure mit den am meisten gezeigten Vorstellungen 2018 Barrie Kosky und Sir David McVicar sind. Mehr über Koskys Gedanken über die Oper können Sie in unserem Interview mit ihm lesen. Die Sänger mit den meisten Vorstellungen waren 2018 Lisette Oropesa und Erwin Schrott. Bei den meistgezeigten Opern ist es wohl keine Überraschung, dass Verdi, Puccini und Mozart gemeinsam weiterhin ein Drittel aller Vorstellungen einnehmen – genau wie es auch die letzten Jahre war seit wir unsere Aufzeichnungen begonnen haben.
Hier finden Sie unsere vollständige Infographik.
(1) Quelle: Sounds and Sweet Airs: The Forgotten Women of Classical Music by Anna Beer, published Oneworld, 2016.