Streng genommen zwingt mich diesmal kein heuer kirchenkalendarisch punktgenaues Datum zur Auswahl dieser November-Kantate, dennoch kann es an ihr kein Vorbeikommen geben. Es handelt sich schließlich um die ansonsten mit dem Ewigkeitssonntag verbundene und eine der bekanntesten Kirchen- beziehungsweise Choralkantaten, wobei sie gleichzeitig mit Bachs Beritt der Dialogkantate verwoben ist. Ich spreche von Wachet auf, ruft uns die Stimme, BWV140, die am 25. November 1731 uraufgeführt wurde. Sehr im Fokus ist sie mir auch schlicht und ergreifend ganz persönlich, weil das Werk auf dem titelgebenden Choral jenes Pfarrers beruht, der in meiner Heimatstadt Unna, genauer meiner Tauf- und Konfirmationskirche, 1599 den Text entworfen hatte: Philipp Nicolai. Die Ausgestaltung in Satz zwei, drei, fünf und sechs selbst übernahm in Leipzig 132 Jahre nach dem Verwurzeln der Melodie ein unbekannter Dichter, der sich Auszügen des Hohelieds Salomos und damit – deshalb Dialog – dem Bild der Hochzeit zwischen Jesus (Vox Christi) und der gläubigen Seele bediente.
Die Hochzeit zwischen Lebenspartnern hat dabei sogar konkret mit der Kantate zu tun, ist sie doch für den letztmöglichen Zeitpunkt vor der Adventszeit bestimmt. Nach katholischer Sicht – hier zählt der erste Advent, nicht der das Ende des Kirchenjahres beschließende Ewigkeitssonntag – sollte in jener Zeit nämlich bis zum ersten Weihnachtstag keine Trauungsmesse stattfinden, während die Reformatoren auch mit dieser Vorgabe Roms ihre Probleme hatten. Einen Kompromiss zeichnete den Pietismus aus, der im protestantischen Leipzig regierte: dort herrschte tempus clausum, also die Reduzierung feierlicher Anlässe und die sie begleitende Kirchenmusik, vom zweiten Adventssonntag bis Weihnachten, so dass auch Bach Rücksicht auf die Kompositionsarbeit nehmen musste.
Herausgekommen ist Musik, die natürlich genau jenen Mittelweg abbildet oder beim ersten Advent und der unmittelbaren Zeit davor bereits diesen einschlägt, indem sie auf das Festbesteck von Trompetenchor und Pauken verzichtet, trotzdem mit einem einzigen colla-parte-Blechinstrument zum Cantus firmus, den Oboen, Streichern und dem Continuo eine faszinierende Feierlichkeit und Würde ausstrahlt. Auf die vor Gott, ja nun im Glauben durch den irdischen Sohn Jesu mit Gott und den Menschen eingegangene Ehe soll die Kantate vorbereiten; eine Zeit, die uns in tradierten Wünschen heute eben nach wie vor als besinnlich über die Lippen kommt und von besonderer Frömmigkeit bestimmt sein sollte. Der Eingangschor ermahnt daher mit den punktierten Wecktönen der Streicher und Oboen zu der Einkehr, die das nächtliche Erscheinen des Weihnachtswunders in feste Aussicht und damit freudige Erwartung stellt. Diese ist quasi als Antwort gekennzeichnet durch die Läufe im tänzerisch möglich ansprechendsten Rhythmus und wird beschlossen von einem mehr als himmlisch zu empfindenden Halleluja.
Ihm folgt in wiederholender Narration das Tenor-Rezitativ, dem sich das erste hochzeitliche Versprechenserfüllen in Form von Sopran-Bass-Dialog „Wenn kömmst du, mein Heil? – Ich komme, dein Teil“ anschmiegt, den die Violine piccolo ähnlich der Kantate zum ersten Advent oder der Ergriffenheit in der Matthäus-Passion zweiflerisch untermalt. Nach dem Männer-Choral „Zions Wächter“ und dem Bass-Rezitativ vereinigen sich Sopran und Bass im Duett „Mein Freund ist mein! Und ich bin sein!“, umgeben von einem Hochzeitsständchen der Oboe. Beim bekannten Schlusschoral „Gloria sei dir gesungen“ kann man sich letztlich wirklich vorstellen, wie die Gemeinde erwacht aufstand und mitsang. Haben Sie ihn ebenfalls im Ohr und summen schon?