Für die diesmalige Vorstellung einer Februar-Bachkantate konnte ich mich wirklich nicht auf ein Werk beschränken. Das hat einen einfachen Grund: 2023 feiern Leipzig und die Bachwelt den 300. Jahrestag Johann Sebastian Bachs Ernennung zum Thomaskantor. Dieser ging ein Verfahren voraus, für das Bach zwei Probestücke im Estomihi-Gottesdienst am 7. Februar 1723 zu präsentieren hatte: Jesus nahm zu sich die Zwölfe, BWV22, und Du wahrer Gott und Davids Sohn, BWV23, die damit denselben Premierensonntag haben und stets zusammen gedacht und betrachtet werden. Dass Bach überhaupt Kantor an St. Thomas und den Hauptkirchen wurde, hat einerseits die Vorgeschichte, dass der von der Leipziger Auswahlkommission 1722 für den Posten bestimmte Georg Philipp Telemann den Ruf nach Gehaltserhöhung und neuer Wohnung in der freien und reichen Elbmetropole Hamburg ablehnte. Und andererseits den Hintergrund, dass sich Telemann gemeinsam mit dienstpflichtig zurückgezogenem Christoph Graupner (und zuvor noch Johann Friedrich Fasch), dem Zweitplatzierten und eigentlichen Sieger aus dem am Ende übrig gebliebenen anberaumten Wettstreit mit Bach, bei den Ratsherren dafür einsetzte, diesem die Stelle guten Gewissens anzuvertrauen.
Auch wenn ich riesiger Telemannfan und großer Freund Graupners Musik bin, lässt sich einfach nicht leugnen, welchen Unterschied Bachs Werke im Vergleich zu Graupners eingereichten und vorgeführten Kantaten haben und machen. Umso erstaunlicher vielleicht heute der damalige Entscheid zugunsten Graupners, doch ist es nicht ungewöhnlich, lieber dem Vertrauten (Graupner studierte wie der gut vernetzte Telemann in Leipzig und bildete mit ihm – noch dazu Schüler des verstorbenen Thomaskantors Kuhnau – das Zentrum evangelischer Kirchenmusik) im Bewusstsein der pietistisch geprägten Stadt den Vorrang vor dem trotz älterer Kantatenstilistiken und -formen für viele zu Kompliziertem beziehungsweise – wie später unter anderem noch bei den Passionen zu vernehmen war – zu theatralisch-operal Ausgeschmücktem Bachs zu geben. Doch verhielt sich Bach äußerst geschickt bei seinem ersten Bewerbungsstück, der Predigtkantate BWV22, indem er viele musikalische Selbstverständlichkeiten seines cleveren Freundes Telemann aufgriff, um sie mit seinen Zahlenspielen, inhaltlichen Ausgestaltungen und Melodien abwechslungsreich zu kombinieren.
In der Eröffnung mit zwölfschlagender Motivik integriert Bach so für die bibelgeschichtliche Abhandlung der beginnenden Passionszeit mit dem Bekenntnis des Petrus, Jesus' Vorausblick auf Golgatha und der verdatterten Reaktion der Jünger tritonische Leidenssymbolik mit Evangelistenvorwort zum Arioso des Basses mit Vox Christi wiedergebender Prophezeiung und dem spürbaren Verwirrtsein der Gefolgschaft. In der Altarie mit weiter an der Seite des Vokalen und der Streicher stehender Solo-Oboe bittet der Dichter für den besser-wissenden Angesprochenen, den Weg nach Jerusalem mit Jesu mitgehen zu dürfen, woraufhin der Bass demütig eine wegzehrende Erklärung verlangt, um mit der Einsicht des triumphierenden Gekreuzigten für den Glauben an Gott be- und in vielen Mitstreitern gestärkt Anteil zu haben. Diese sich selbst Mut machende Erkenntnis und Stärkung verarbeitet Bach in typischer Tanzsatzarie für den Tenor mit haltebetontem Versprechen des „ewigen Friedens“, der zum Abschluss mit „Ertöt uns durch dein Güte“ ein ebenfalls freudvoller Choral auf die Urheberschaft der ersten protestantischen Verfasserin Elisabeth Creutziger folgt.
Die Verbindung von Jesu und Mensch lässt Bach in der Abendmahlkantate BWV23, die die Heilung des Blinden auf Jesu Weg zur Grundlage hat, durch die Einleitung mit einem anrufenden Duett der gläubigen Seelen zusammen mit nun zwei Oboen und Continuo verdeutlichen. Den Oboen tritt im Tenor-Rezitativ die sehende, erlösende, segensreiche Violine bei, die klingenden Hände und Füße des Herrn, den die Kranken und Behandlungsbedürftigen im Chor mit solistischem Einsatz von Tenor und Bass mit „Aller Augen warten auf dich“ geduldig und erwartungsfroh herbeisehnen. Taucht der Choral „Christe, du Lamm Gottes“ bereits im Rezitativ in den Instrumentalstimmen auf, benutzt ihn Bach in ganzer, dreigliedriger Tutti-Ausbreitung zum Finale seines zweiten Probestücks, um zunächst wieder klammerhaft und auftragsgemäß verbindend an die Passion zu erinnern, in die der Zuhörer danach entlassen wurde, und um dann musikalisch organisch in rhythmischer und notenwertlicher Melodie-Verschiebung die Erlösungskraft hervorzurufen.