Auch bei der Juni-Ausgabe von Bachtracks Bachkantaten-Reihe plagte mich, jetzt nur ein Werk zur Vorstellung herauszugreifen, womit konstant deutlich wird, welch unbestreitbar qualitatives Schaffen Bach allein an seiner erhaltenen Figuralmusik hinterlassen hat. Meine Qual der Wahl fiel zwischen zwei wirklich bedeutenden, zweiteiligen Kantaten: O Ewigkeit, du Donnerwort, BWV20, und Ich hatte viel Bekümmernis, BWV21. Letztere wurde es – und ehe ich doch noch irgendein Wort über die Nichterwählte verliere, fange ich lieber gleich damit an, über die Besonderheiten und faszinierenden Bestandteile der Kantate zu sprechen, die am 17. Juni 1714 in Weimar aufgeführt wurde.
Dass dieses Datum allerdings ihre Premiere tatsächlich festhält, gilt als unwahrscheinlich, sicher ist nur, dass sie an diesem Tag nachweislich gespielt wurde. Gemutmaßt wird jedoch, dass sie bereits vorher erstmals erklang, entweder am 08. Oktober 1713 – in kürzerer Version – zur Beerdigung der Frau eines Hofsekretärs oder im selbigen Jahr, als sich Bach aus Kalkül, dadurch endlich den Hofkapellmeisterposten in Weimar angetragen zu bekommen, in Halle an der Saale um die Stelle des mit Vokalmusik beauftragten Organisten beworben hatte. In Weimar selbst war es mit festgehaltenem Aufführungstag 1714 die letzte Kantate, die Bachs Dienstherr, Prinz Johann Ernst, hören konnte, hatte er den Komponisten drei Monate zuvor erst zum kompromisslichen Hofcompositeur ernannt. Trotz junger Jahre war der Herzog von Sachsen-Weimar nämlich schon von schwerer Krankheit heimgesucht und brach am 04. Juli zu einer Linderung versprechenden Kur auf, von der er allerdings nicht mehr lebend zurückkehren sollte.
Die Geschichte Johann Ernsts hat wiederum direkt etwas mit der Musik zu tun. Scheint sie also schon in ihrer abgespeckten, ursprünglichen Fassung – wegen der deutlichen Anspielung auf Vivaldis Concerto RV565 im unnachahmlich bildlich affektversierten und kontraststarken Zusammenfassungs-Titel-Chor auch zu besonderem Gefallen des italobegeisterten Prinzen – als Trauermusik hergehalten zu haben, ist sie ein vorahnendes Abschieds- und Ehrerbietungsgeschenk. Zur richtigen fürstlichen Trauer- und Dankesode, die natürlich den Trost im Glauben an die christliche Wiederauferstehung in der Ewigkeit Gottes Gefilde in den Mittelpunkt stellt, wird sie vor allem durch ihre neu hinzugefügten Sätze, Eröffnung und Schluss, so dass sie insgesamt noch größer und dramatischer wird. Den Beginn ziert nämlich eine formgebende, Sepulcro-(oder Passions-)Sinfonia mit leidensklarer Oboe, zu der eine Violine stößt, die Bach selbst gespielt haben könnte und das beherrschte und kompositorische Instrument des Adligen war. Zum Abschluss treten dann Pauken und Trompeten für den irdischen und überirdischen Lobpreis „Das Lamm, das erwürget ist“ hinzu, der in dieser eingebenden Art einmalig bei Bach herausragt.
Dazwischen liegen im ersten Teil vor den liturgischen Worten Sopran-Arie „Seufzer, Tränen, Kummer, Not“, Tenor-Rezitativ-Accompagnato „Wie hast du dich, mein Gott“ und -Arie „Bäche von gesalznen Zähren“, die in ihrer ganzen Anlage und geschriebenen Ausdruckskraft in neuer Neumeister-Form eben Sätze einer famosen Bach-Passion sein könnten. Zu älterer Aufmachung, die Bach vor 1714 pflegte, kehrt er in dessen abschließenden Chor „Was betrübst du dich, meine Seele“ zurück, der vom Stil ziemlich an Bachs Mühlhäuser Begräbnis- oder Bußkantate BWV131 erinnert. Ihm folgt der zweite Teil mit seinem üblichen Dialog zwischen Sopran und Bass, also der gläubigen Seele und Jesus, der Trost vom Schmerz und Zuversicht durch eigene Geschichte schürt. Das österliche Grund-Credo bekräftigt der Chor in „Sei nun wieder zufrieden“ mit greifbarer Zuspruchsintonation, wiederholt vom Tenor – in einer Köthener Abschrift von 1720 vom Sopran – in „Erfreue dich, Seele, erfreue dich, Herze“. So sei es!