Für die Dezember-Ausgabe von Bachtracks Bachkantaten-Reihe habe ich mich einerseits gezwungenermaßen gegen die mehr als bekannte Kantate zum 1. Weihnachtstag entschieden, die den ersten Teil des Weihnachtsoratoriums (1734) bildet, weil sie im Werkverzeichnis nicht als eigenständiges Stück geführt wird. Andererseits fiel meine Wahl auch nicht auf ihr Pendant aus Weimar, der schillernden Kantate BWV63, die durchaus wegen ihrer Besonderheit herangezogen werden könnte, nur eine von zwei Kantaten im erhaltenen Schaffen Bachs zu sein, deren Besetzung vier Trompeten erfordert. Und ebensowenig wollte ich hier die Kantate BWV147 mit ihrem heute berühmtesten Bach-Choral ansprechen, mutierte sie doch aus kirchenrechtlichen Gründen von der Adventsmusik in Weimar zum Begleiter für das Fest Mariä Heimsuchung am 2. Juli in Leipzig. Stattdessen leuchtete mir durch im Folgenden zu erläuternden Umstand eine Kantate auf, deren Musik sowohl Bach selbst als außerordentlich gelungen bewertet hat als auch die Interpreten und Rezipienten bis heute so empfinden: BWV191, Gloria in excelsis Deo, und damit in diesem Format mal einem Spätwerk.
Dabei ist es gar kein richtiges Spätwerk, sondern – womit wir bei der Begründung sind – ein durchaus typischerweise recyceltes Verwenden von Musik, die Bach früher geschrieben hatte. Nämlich in diesem Fall jene mehr oder minder bearbeiteten Einfälle aus dem Frühjahr 1733, als Bach eine Missa aus Kyrie und Gloria komponierte. Bei Erwähnung der Tonart h-Moll dürfte nun deutlich werden, welche Zusammenhänge mich also zum Herausgreifen dieser Kantate veranlasst haben: die Noten des Gloria und seiner Sequenzsätze „Domine Deus“ und „Cum sancto spiritu“ der legendären, überragenden h-Moll-Messe, die Bach nach Missa und Kantate zum Gesamtkunstwerk vervollständigte.
Die Kantate selbst, am 25.12.1742 zur Schmückung einer akademischen Rede in der Universitätskirche gespielt, besitzt damit das Alleinstellungsmerkmal, auf Latein gehalten zu sein. Zudem ist sie mit ihren – in der Besetzung zur Kurz- beziehungsweise Komplettmesse identisch gehaltenen – drei Sätzen naturgemäß sehr auffällig. Der Text bezieht sich auf die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums, in der die Hirten teilhaben am Leuchtschweif Gottes in der Nacht bei seiner Ankunft auf der Erde durch Christi Geburt. Die von den Engel im Himmel bezeugte und von den Menschen gepriesene Herrlichkeit „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“ dringt in sie hinein, um Kraft und Überwindung für das innere, aber auch Gottesfürchtigkeit für das äußere Seelenheil zu erfahren.
In uns kommt diese Herrlichkeit mit der wirklich unvergleichlichen, schieren Freude Bachs Musik, in der die feierlichen Engelstrompeten und alle Stimmen ihrer Heerscharen den festlichen Glanz, die Zuversicht und die Rettung sowie den Sog der botschaftlichen Überzeugung, Weitertragung und geschichtlichen Gefühlsübermittlung mit ansteckendem tänzerisch-ausgelassenen Rhythmus entfachen. Er berührt mich zwar schon im fünstimmigen „Gloria“ und kontrastierend ruhig-prächtig-zeremoniellen „et in terra pax“ oder von zwei Traversflöten bezuckerten Sopran-Tenor-Duett „Gloria et filio et spiritui sancto“, das nach der Rede oder Predigt gesungen wird. Es ist vor allem jedoch das „Sicut erat in principio“ – vielleicht geht es Ihnen ja auch so? –, welches mich persönlich so sehr in Schwingung versetzt, dass ich den Satz als höchstes musikalisches Geschenk überhaupt betrachte. Gesegnete Weihnachten!