Das Saallicht geht aus, die Künstler betreten die Bühne, begrüßen das Publikum mit synchronem Kopfnicken und nehmen Platz. Diese wohlbekannte Routine überrascht niemanden mehr. Der diskreten, schwarzgekleideten Silhouette, die am hinteren Bühnenrand entlang zum Klavier schlüpft, schenken nur wenige Zuhörer Beachtung. Aber was wissen wir über diese stille Figur, die gerade mitten auf der Bühne Position bezogen hat und doch gänzlich anonym ist? Wir wollen mehr herausfinden über einen wesentlichen Job, der meist ignoriert wird: die Kunst des Notenwendens.

Brenda Petitjean im Schatten von Alexandra Tharaud
© Miguel Bueno

Ist es nur ein Job? Wir treffen Jean Fröhlich. Der Inspizient, der in der französischen Musikszene wohlbekannt ist – in den letzten 30 Jahren hat er für Radio France, die Deauville Festivals und eine Reihe Pariser Kirchen gearbeitet – hat in seinem Leben sicherlich schon mehr geblättert als viele Musiker! Wenn das Gehalt eines Notenwenders auch immer „mickrig“ gewesen ist und nicht genug, um diese Rolle zu einem „Job“ zu machen, so waren die Stunden des „Kopfeinziehens“ doch eine gute Einnahmequelle, während er als Aushilfe gearbeitet hat. „Diese Beschäftigung hat mir fast mein ganzes Leben lang geholfen. Ich habe viel und oft geblättert, vor allem im Studio 106 von Maison de la Radio, für die Kammermusikprogramme. Als Nicolas Bacri dort Programmdirektor war, vor etwa 30 Jahren, fügte man im Vertrag ein kleines Kästchen hinzu, in dem die Musiker ankreuzen konnten, ob sie einen Notenwender brauchen.“

Diese Art der öffentlichen Anerkennung kann jedoch eine Wahrheit nicht verstecken: an den meisten Institutionen steht der Notenwender ganz unten auf der Prioritätenliste und damit an der Stelle, an die Organisatoren – und Künstler – wahrscheinlich erst ein paar Stunden vor dem Konzert denken. Brenda Petitjean, Klavierstudentin at der Haute École de Musique in Genf und offizielle Notenwenderin der letzten Sommets musicaux in Gstaad, erklärt, wie ein Künstler einen Notenwender sucht: „Üblicherweise fragt ein Pianist seine Studenten, oder die Studenten seiner Freunde, wenn er im Ausland spielt.“ Die Nachfrage geht dann durch das Netzwerk des Pianisten, bis sich jemand findet, der die Aufgabe übernehmen will.


Viele sagen nein. In diesem „hinter den Kulissen‘-Job gibt es praktisch keine Anerkennung, doch der Druck ist oft beträchtlich: „Wenn wir einen Fehler machen, live, on air...“ überlegt Jean Fröhlich mit nervösem Lächeln. Er erinnert sich an die Eröffnung des letzten Festival Présences, wo er für Bertrand Chamayou ein Werk von Wolfgang Rihm für Klavier solo blätterte. „Ich konnte die Partitur erst etwa eine Stunde vor Konzertbeginn einsehen. Bertrand sagte mir, es wäre einfach, und er würde mir rechtzeitig ein Signal geben... An einer Stelle im Stück kam er direkt neben mich, er stand beinahe auf, um die untersten Tasten zu erreichen. Zum Glück war der Boden rutschig und ich konnte leicht nach hinten ausweichen... Am schwierigsten war es danach, wieder nahe an ihn heranzurücken! Ich hielt immer mit einer Hand meinen Hocker fest, wenn ich aufstand, um zu blättern... Und ich musste meine Bewegungen für das Publikum immer elegant aussehen lassen. Wir müssen unsichtbar bleiben.“

Notenwenden ist emotional anstrengend, gibt Brenda Petitjean zu. „Ich liebe es, auf der Bühne zu sein, und das Konzert stellvertretend zu erleben. Wir lesen die Noten mit, wir leben die Musik auf einzigartige Weise.“ Im Blättern liegt wahre musikalische Kunst, grundlegend und doch unerwartet. „Ich verliere mich in der Musik, ich blättere im Rhythmus oder dem Stil der Musik, um sicherzugehen, dass es so unauffällig wie möglich geschieht. Meine Arbeit darf das Hörerlebnis nicht stören.“
Die Pianisten selbst wissen um die Bedeutung ihrer Notenwender und betrachten sie oft als tatsächliche Konzertpartner, die ihre eigene Rolle in der Interpretation des Werkes spielen. Aus diesem Grund hat Brenda Petitjean vor dem Konzert die Goldberg-Variationen sehr genau mit Alexandre Tharaud studiert. „In der Partitur kann man manche Variationen ohne Pause, andere mit kurzer Pause spielen. In der Mitte der 32 Variationen steht aber eine Doppelfermate, die eine sehr lange Pause anzeigt. Wir haben uns wirklich Zeit genommen, um das vor dem Konzert vorzubereiten, und Tharaud hat mich auf all diese verschiedenen Details aufmerksam gemacht. Abhängig vom Ende der Variation mussten wir einen Moment der Stille halten oder blättern, bevor die letzte Note verklungen war. Und nach der Hälfte des Werkes mussten wir beinahe eine kleine Konzertpause lassen... Er war der festen Überzeugung, dass es wie Kammermusik anzugehen war, dass ich den richtigen Moment zu blättern fühlen, dass ich mit ihm spielen musste.“


Natürlich passieren auch Fehler, deren Videobeweise auf YouTube berühmt-berüchtigt sind. Doch man bedenke, bevor man die Notenwender zu hart ins Gericht nimmt, dass Fehler nicht unbedingt ihre Schuld sind. „Ich kann mich nicht mehr an den Namen des Pianisten erinnern“, zögert Fröhlich. „Es passierte an einem Sonntagnachmittagskonzert in Deauville. Das Konzert wurde für einen Fernsehkanal gefilmt, ein TV-Kran nahm im Saal ziemlich viel Platz ein und so weiter. Der Pianist hatte seine Partitur in Paris vergessen. Normalerweise werden Noten mit einem Drucker vom Original kopiert, der die Seiten leicht biegt, doch ein normales Fotokopiergerät macht das natürlich nicht... und so passierte der Albtraum für jeden Notenwender: beim Umblättern nahm ich nicht eine, sondern zwei Seiten. Und die Partitur fiel auseinander.“

Jean Fröhlich und Brenda Petitjean sind sich jedoch einig: in den meisten Fällen ist das Blättern nicht so schwierig. Wendet man ein bisschen zu früh oder zu spät, passt der Pianist sich an, denn die Noten sind oft nur Gedächtnisstütze für den Künstler. Und dies, so Jean Fröhlich, zeigt wie Probleme beim Blättern oft enthüllen, wie ernst die Musiker es nehmen. „Es gibt Pianisten, mit denen ist es schwer: wir blättern beim letzten Ton und sie schütteln den Kopf; wir blättern zwei Takte voraus, sie schütteln den Kopf... Das ist ein Zeichen, dass sie die Partitur nicht gut genug kennen! Wenn ein Pianist ein Stück erarbeitet, schenkt er den Blätterstellen besondere Aufmerksamkeit, arbeitet daran mit einer Hand, der anderen Hand...“ Fröhlich würde keine Namen nennen, aber er gesteht, dass er „eine kleine Liste“ hat. Mit seinen über 30 Jahren Erfahrung können wir ihm glauben: wie viele Menschen sind schon so vertraut mit der Pariser Klavierwelt wie er?

Jean Fröhlich zwischen Guillaume Bellom und Yan Levionnois
© Claude Doaré

Doch er ist sehr bescheiden. Er weigert sich, den künstlerischen Aspekt seiner Aufgabe zu betrachten. „Ich halte mich einfach nur im Hintergrund, wirklich.“ Er denkt nicht an das Rampenlicht oder den Reiz der Herausforderung. Er wurde für ein einzigartiges Projekt angefragt: Blättern für Christian Tetzlaff in Jörg Widmanns Violinkonzert, einem Stück, „in dem die Violine 27 Minuten lang ohne Pause wie ein Grashüpfer herumspringt“. Nimmt er an, dann nicht wegen der Herausforderung. Selbst, wenn er auf einem 15 Zentimeter hohen Würfel sitzt, die Noten kaum und den Dirigenten nur halb sehen kann. Warum macht er es dann? Er überlegt. Schließlich sagt er: „Es ist mein Pflichtgefühl, die Freude an gut gemachter Arbeit, selbst, wenn es niemand sehen kann. Besonders dann, wenn es niemand sehen kann.“

Was er besonders amüsant findet ist, dass gerade er die Rolle des Unsichtbaren spielt, er mit seinen ein Meter achtzig, er, der nicht nur mit Pianisten gearbeitet hat: seine 400 Konzerte auf dem Podium der großen Orgel in Notre-Dame in Paris nehmen in seinem Leben als Notenwender einen besonderen Platz ein. Vor allem, weil er zudem gebeten wurde, auch die erhebliche Verantwortung zu übernehmen, die 130 Register des gigantischen Instrumentes zu bedienen. Zuerst folgte er den Anweisungen der Musiker, doch dann vertrauten ihm manche Organisten, beispielsweise Arnold Batselaere oder Yves Devernay, so vollkommen, dass sie ihrem Notenwender in ihren Improvisationen die Führung übernehmen und entscheiden ließen, wann „ihr“ großes Crescendo kam. Und alles in totaler Anonymität des Orgelbalkons, das Publikum nichtsahnend. „Die Zuhörer wissen nicht einmal, dass es uns gibt“, sagt Fröhlich mit breitem Lächeln. Hier driftet dieses Interview beinahe ins Reich der Science-Fiction ab: all diese Macht in den Händen eines Unsichtbaren – kann man sich das vorstellen?



Übertragung der englischen Übersetzung ins Deutsche von Hedy Mühleck.