Am 22. April jährt sich Bachs Wahl zum Leipziger Thomaskantor das 300. Mal. Fast auf den Tag 220 Jahre später, am 20. April 1943, wurde Sir John Eliot Gardiner in Dorset geboren. Die Berufung, sich mit Bach zu beschäftigen und als Alte-Musik-Pionier die Szene zu prägen, war dem Briten dabei in die Wiege gelegt, lief er doch als Kind eine ganze Weile tagtäglich an Bach vorbei. Haußmanns originales Bachportrait von 1748, das auch jedem von uns das Antlitz des Komponisten vor Augen bringt, hing in seinem Zuhause. Zum 80. Geburtstag erwählte sich Gardiner so natürlich Bach zum allgegenwärtigen Begleiter seiner Feiertournee, genauer das Festwerk schlechthin, die h-Moll-Messe, die der Jubilar, den ich mit dem Stück tatsächlich das erste Mal live 2010 erleben konnte, selbst zu einem unvergesslichen Präsent, für mich zum besten Konzert meines Lebens machte.
Obwohl die Einschätzung der Perfektion unter Musikern nachvollziehbar recht verpönt ist, bleibt mir nur diese mir sogar innerlich deskriptiv untertrieben vorkommende Begrifflichkeit meines über 24 Stunden nach Aufführungsende noch um Worte und Fassung ringenden Eindrucks. Schließlich formte vor Vitalität und immerwährender Neu- und exaktester Detailgier (auch in seiner die nanosekündliche Einheit und rhythmische, artikulatorische Akkuratesse aller unterstützender Zeichengebung) sprühender Gardiner seine treuen und exquisiten Stimmen des Monteverdi Choir und der English Baroque Soloists in Linien, Dynamiken, Glanzstufen und diktionsüberragenden Ausdrücken zu einer Harmonie eines goldenen Schnitts. Der bildete nicht nur mit untrüglich effektivster Sensationsgabe gesegnete Kunst, überzeugendst universell herübergebrachte Glaubensstützen und in sich prophezeiende Herrlichkeit vokal- und instrumentalgewaltlichen Naturstils kategoriesprengend ab, sondern entsprach dem Genius Bach'schen Höchstem aller Meisterwerke aufs Referenziellste.
In der Kyrie-Sequenz ging der Ehranruf mit der prächtigen – wie nachher alle Arieneinsätze auswendig vorgetragenen – Klangwand des Dictums los und in balancierter, federnder und gehaltvoller Eindringlichkeit beziehungsweise schlafwandlerisch-gestempelter Muss-so-Rezeptorenansprache weiter. Nach offen betontem, dabei kontrolliert phrasiertem, unschuldig und engelsgleichem, besonders warmem, elegantem Christe-Duett von Hilary Cronin und Sarah Denbee sowie einem robusten Kyrie II, überwältigten Chor und Orchester mit dem Gloria. In titelgebenden Eröffnungssätzen wechselten sich in haargenauer Sagenhaftigkeit strahlende Wucht und schwebende Flügel der beschworenen Taube ab, während Cronin mit ebenso blitzsauberer, zum Publikum gewandter Konzertmeisterin Kati Debretzeni in lieblicher Schmeichelei und ornamentierter Feinstmotorik das Laudamus te sowie gemeinsam mit Jonathan Hanley und Obilgattraversen hinter dem Gratias als tuttientfaltendem Gänsehaut-Quell verständlichst gestalterische Güte und Flexibilität im Domine Deus walten ließ. Countertenor Reginald Mobley bezauberte zusammen mit Michael Niesemanns Oboe d'amore mit seinem unverwechselbar thronend lichtem, techniktalentiertem und Milde erfülltem Timbre im Qui sedes, nachdem die Erbietungsflut des Qui tollis und bevor mit Dingle Yandell der beeindruckend klarste, angenehmste, tragende Bass im Quoniam mit Corno-da-caccia-Koryphäe Anneke Scott, Doppelfagotten und Continuo den Weg zum ultramitreißenden Cum sancto spiritu ebneten.