Eine Bockleiter wirbt in Inseraten und auf dem Cover des Programmhefts für das Stück. Klar: mit diesem Gerät wird es der Liebhaber schaffen, auf den Balkon seiner Angebeteten zu steigen, um ihr dort seine Liebe zu gestehen. Die Balkonszene ist die berühmteste Station in Shakespeares Drama Romeo and Juliet. Auch in Charles Gounods Oper, deren Libretto in Anlehnung an den englischen Dichter entstand, kommt diese Balkonszene vor. Doch in der Neuproduktion am Opernhaus Zürich sucht man den Balkon vergeblich. Auch die übrigen Handlungssorte des 5-aktigen Drame lyrique sind nicht als solche gekennzeichnet. Die Zelle von Frère Laurent, wo die Trauung stattfindet, die Strasse, wo der Streit der verfeindeten Clans eskaliert, Julias Zimmer, in dem sich die Hochzeitsnacht ereignet, oder das Familiengrab, wo das Paar Selbstmord begeht – alle diese Orte muss man sich in der eigenen Phantasie zurechtlegen. Die Inszenierung des amerikanischen Regisseurs Ted Huffman richtet sich an ein Publikum, das mit dem Stück bestens vertraut ist.
Der von Andrew Lieberman geschaffene Bühnenraum wird durch drei schmucklose grüne Wände begrenzt. Als einzige Requisiten dienen zwei lange Reihen von Holzstühlen. Auf der linken Seite nehmen die Herren Platz, auf der rechten die jungen Damen. Annemarie Woods steckt die Herren in weisse Sakkos mit schwarzer Hose, die Damen in halblange weisse Ballkleider. Inspiriert ist dieses Setting vom festlichen Ball, den Graf Capulet zu Beginn der Oper veranstaltet. Der Regisseur gestaltet ihn als Debütantinnenball, als eine in den USA bis heute beliebte Veranstaltung, wo die jungen Damen in die vornehme Gesellschaft eingeführt werden. Auch Julia ist eine solche Debütantin, die nach dem Willen ihres Vaters mit Paris, einem höheren Offizier, verkuppelt werden soll. Passt die Ball-Idee beim ersten Akt, wo auch musikalisch Walzer getanzt wird, ausgezeichnet, so verliert sie in den folgenden Szenen doch deutlich an Relevanz.
Die Nüchternheit und Ortlosigkeit der Bühne macht den Weg frei für die Fokussierung auf das Liebespaar. Mit der Wahl von Julie Fuchs als Julia und Benjamin Bernheim als Romeo ist dem Opernhaus Zürich ein Coup gelungen. Bernheim war früher Mitglied am IOS des Hauses; Fuchs gehörte von 2013 bis 2015 zum Ensemble und avancierte in dieser Zeit und danach zum Publikumsliebling. Die beiden inzwischen zur internationalen Spitze aufgestiegenen Stars haben aber noch nie in einer Opernproduktion miteinander gesungen. Doch wenn man die beiden nun als Liebespaar erlebt, würde man vermuten, dass sie schon seit Jahren zusammenarbeiten, ja dass sie auch im wirklichen Leben ein Paar sein könnten.
Doch alles ist nur gespielt. Und zwar mit so viel Natürlichkeit, Emotionen und Identifikation, dass man als Betrachter bisweilen zu Tränen gerührt ist. Bernheim, dessen Stärken im französischen Repertoire des 19. Jahrhunderts liegen, zeigt sich in allen Facetten als Liebender, Kämpfender, Leidender und Verzweifelter. Sein Tenor klingt in der Höhe gelegentlich etwas metallisch, da denkt man an seine Paraderollen in Massenets Manon oder Puccinis La bohème. Julie Fuchs verkörpert in ihrem Rollendebüt alles andere als das scheue Mädchen, das erweckt werden muss. Im ersten Duett mimt sie zwar zunächst etwas Zurückhaltung; aber dann ist sie diejenige, die Romeo zuerst küsst. Die für Mozart und den italienischen Belcanto bekannte Sängerin besitzt nach wie vor einen lyrischen Sopran, den sie aber bei Bedarf auch recht dramatisch einsetzen kann. Zum Beispiel in der finalen Gruft-Szene, wo Gounod – in Abweichung zu Shakespeare – ein kurzes Wiedersehen des Liebespaares komponiert hat.
Leider sind die übrigen Figuren des Stücks etwas konturlos gezeichnet. Frère Laurent (Brent Michael Smith) könnte komplizenhafter agieren, Graf Capulet (David Soar) den Machtmenschen deutlicher herausstreichen, Mercutio (Yuriy Hadzetskyy) mehr Temperament zeigen oder Tybalt (Omer Kobiljak) als Kriegstreiber auftreten. Die einzige Ausnahme bildet Svetlina Stoyanova in der Hosenrolle von Romeos Page Stéfano, die mit ihrem herausfordernden Chanson „Que fais-tu, blanche tourterelle” die einzige komische Note des Stücks beisteuert.
Die Konturlosigkeit der Nebenfiguren liegt weniger an diesen selbst als am Regiekonzept. Huffman lässt das Konfliktpotenzial der Oper nicht wirklich sich entfalten. Er müsste ja nicht gleich so weit gehen wie Olivier Py vor einigen Jahren in Amsterdam, der die Brutalität der beiden verfeindeten Parteien erschreckend realistisch gezeigt hat. Aber dass die ständige Gewaltbereitschaft der Capulets und der Montaigus die Ursache für den fatalen Ausgang der Liebesgeschichte bildet, müsste szenisch präsenter sein. Sichtbares Zeichen der Bedrohungslage ist immerhin die langsam von Akt zu Akt nach vorne verschobene Rückwand, die das Liebespaar buchstäblich in die Enge treibt. Doch das bleibt reichlich abstrakt.