Kaum zu glauben: Calixto Bieitos Carmen-Inszenierung geht an der Wiener Staatsoper bereits in die dritte Saison und wirkt immer noch so frisch wie bei der (gestreamten) Premiere im Februar 2021, obwohl die Regiearbeit an sich bald 25 Jahre alt ist. Hier hat Bieito viel richtig und nichts falsch gemacht.
Er zeigt die Außenseitergesellschaft rund um Carmen mit einem verständnis- bis liebevollen Blick, aber gänzlich ungeschminkt (anders als die Damen des Milieus, die es modisch bunt und kurz mögen). Sein Fokus liegt auf der sozialen Revolution, die dieses Werk zur Uraufführungszeit 1875 bedeutete: hier ein braver Soldat, der mit der schönen Carmen ein erotisches Erweckungserlebnis hat und von bürgerlichem Glück mit ihr träumt – da eine nur ihrer Lust und Laune verpflichtete Zigeunerin, die ihn zwar auf ihre Weise liebt, aber zur Bindung nicht willig und wohl auch nicht fähig ist. Seinerzeit war das ein Angriff auf das Überlegenheitsgefühl insbesondere des männlichen Publikums, allerdings ging der gesellschaftliche Aspekt in traditionellen Carmen-Klischees mit der Zeit oft unter, und die Handlung verkam zur Privatsache zwischen der Señorita mit dem flatterhaften Wesen und ihrem Don José.
Hingegen trifft bei Bieito das verrohte Soldatenkollektiv auf die um nichts weniger brutale Schmugglerwelt, in der es ums Überleben, ums Nicht-Erwischt-Werden, und ums Verjuxen der Gewinne bei spontanen Partys geht – in diesem Setting gewinnt die Figur des Don José auch eine oft vermisste Dimension: Er ist nicht nur naiv und eifersüchtig, er stellt einen Besitzanspruch, zu dem ihn die Konventionen seiner Herkunftsgesellschaft berechtigt. Das wird von David Butt Philipp überzeugend dargestellt, wobei er gerade im Finale (mit dem sich schon erfahrenere Tenöre gemüht haben) seine besten schauspielerischen Momente hat. Dieser Don José will vernünftig sein, will Abstand halten, und kommt doch nicht aus ihrem Gravitationsfeld. Sängerisch glänzt er mit nobler Phrasierung der Blumenarie, großer Emotion und respektablem Französisch.
Hauptfigur ist und bleibt aber natürlich die Titelheldin, und diese wird von Eve-Maud Hubeaux bestechend gespielt und gesungen. Sie genießt die Vielseitigkeit der musikalischen Sprache zwischen Habanera und spöttischem Trallala, wobei ihre Stimme in der Höhe wie in der Tiefe gleich attraktiv ist. Doch bei aller Lebenslust, die sie vermittelt, gerät ihr gerade die unheilschwangere Kartenszene phänomenal. Diese ist auch durch die ebenso großartigen Leistungen von Ileana Tonca (Frasquita) und Isabel Signoret (Mercédès) bestens vorbereitet. Im Finale hält sie trotz ihrer schlechten Schicksalskarten das Kinn weiter hoch und den Blick von oben herab. Einmal schnell José loswerden und sich dann in Ruhe weiterschminken – eine bessere Regieidee, um Carmens überhebliche wie tragische Fehleinschätzung von Josés Gefährlichkeit zu zeigen, wird man schwer finden.