Mit einem fulminant dargebotenen und fein durchdachten Programm überwältigten die Berliner Philharmoniker und Chefdirigent Sir Simon Rattle am letzten Konzertwochenende vor ihrer USA- und Kanada-Tournee noch einmal ihr Heimatpublikum in der Herbert-von-Karajan-Straße 1.

Zu hören gab es zunächst Stücke für Orchester von Arnold Schönberg , Anton Webern und Alban Berg, den drei herausragenden Vertretern der Zweiten Wiener Schule; nach der Pause sinnig ergänzt durch Johannes Brahms' Symphonie Nr. 2. Denn Brahms, obgleich von seinen „neudeutschen“ Zeitgenossen um Richard Wagner, Franz Liszt und Hector Berlioz als reaktionär abgewertet, galt Schönberg (und auch dessen Schülern Webern und Berg) als „der Fortschrittliche“, wie ihn der 41 Jahre Jüngere 1947 im Titel eines viel beachteten Artikels nannte. Die Orchesterstücke der drei Wiener Neutöner stellen gewichtige Versuche dar, die zuvor bereits auf dem Gebiet der Kammermusik erprobten, musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten jenseits von Tonalität sowie die Suche nach einem stets zu erneuernden, individuellen Klang auf das Medium Orchester zu übertragen.

Den Bezug zur Kammermusik aller drei Werke machten Rattle und die Berliner deutlich – trotz des übergroßen auf der Bühne versammelten Ensembles schufen sie Momente von der Intimität eines Streichquartett-Adagios, um dann wieder gewaltig aufschwellend zu voller Kraft sich zu entwickeln. Die unterschiedlichen Farbnuancen aller drei spätest-romantisch bis frühmodernen Werke wurden von Orchester und Dirigent mit sensiblem Gespür für Emotion und Form umfassend herausgearbeitet, dabei den fabelhaften Instrumentalisten reichlich Gelegenheit zur Präsentation ihrer Fähigkeiten bietend. Die Soli führten in den Streichern durch alle Stimmgruppen bis zum Kontrabass, die ebenso brillierten wie Blech- und Holzbläser, Harfe und Schlagwerk von der Triangel über Gong und Glocken bis zum (wirklich sehr) großen Hammer, der mit absolut präzisem Schlag den ersten Teil des Abends beendete.

Nun erst gab es Gelegenheit zum Atemholen, sowohl für das Publikum als vor allem für die Ausführenden, denn der Maestro selbst hatte vor Konzertbeginn via Mikrophon erklärt, dass die drei Wiener Schule-Werke ohne Unterbrechung („und bitte auch ohne Applaus – am Ende aber gern“) in der Chronologie ihrer Entstehung vorgetragen werden würden – quasi als Suite mit 14 Sätzen. Was für ein interessantes Konzept, und wie stimmig in seiner Umsetzung! Die nahtlose Aneinanderreihung der insgesamt 14 Stücke verlief im wahrsten Sinne des Wortes reibungslos. Für den unbedarften Hörer war nicht oder kaum zu erkennen, wo das eine Werk aufhörte und das nächste begann, so fließend griffen die Übergänge ineinander, und so nah sind tatsächlich die Kompositionen von Webern und Berg der ihres verehrten Lehrers Arnold Schönberg.

Nach den aufwühlenden Klängen des ersten Teils schien die pastorale Idylle des Beginns von Brahms' Zweiter Symphonie das Publikum sanft über die vorherigen Dissonanzen, Brüche und Auflösungen hinwegtrösten zu wollen. Doch wer Anstalten machte, sich verzückt in den (exzellent ausgeführten) Hornpartien zu verlieren, wurde bald aufgerüttelt. Denn so sehr Brahms' D-Dur-Symphonie schon von den Zeitgenossen (nach seiner im „Pathos faustischer Seelenkämpfe“ (Eduard Hanslick) verfassten Ersten Symphonie) als Rückkehr zu lieblicher Verständlichkeit empfunden wurde, so wenig entspricht ihr wahrer Charakter dieser einseitigen Wahrnehmung. Selten allerdings wird dies im Konzert derart unbedingt deutlich wie an diesem Abend in der Berliner Philharmonie.

Häufig misslingt schon der Anfang, dem naturhaften Thema nämlich folgt eine spiralförmige Abwärtsbewegung im Streicherunisono, die in dumpf-dröhnenden, von Paukenwirbeln unterlegten Posaunenakkorden endet. Auch renommierte Dirigenten an der Spitze von Weltklasse-Ensembles unterliegen hier oft der Versuchung, die Idylle in behäbiger Trägheit und die sich windende Streicherfigur wie Mazas' Violinetüden vortragen zu lassen. Nicht so Rattle und die Berliner: Brillant, wach, dabei von klar-leuchtendem Klang sprangen den Hörer die Noten geradezu an. Auch im Weiteren keine Spur von Ermüdung oder Banalität, im Gegenteil: Durch alle Kantabilität klang immer wieder die ungestillte Sehnsucht, das rastlose Suchen einer getriebenen Seele, die verschiedentlichen Ausprägungen von Leid, wie es sich vielleicht in der Schönheit sogar am schärfsten, am wehmütigsten zumindest offenbart. Brahms hätte sich vermutlich sehr verstanden gefühlt von Rattles durchhörbarer Interpretation, die Gegensätze formte anstatt sie zu scheuen, die Idylle mit Leidenschaft färbte, Ausdruck von wilder Lebensfreude mit tiefem Weltschmerz vereinte.

Über technische Finessen, wie sie sich auch hier wieder zeigten, ging dies weit hinaus: messerscharfe Kontraste; ein glasklares Pianissimo, dessen Wispern eine Lust war; Generalpausen, die diesen Namen verdienten, Präzision en detail – besonders freudvoll in den blitzartig getupften leggiero-Staccati der Streicher im dritten Satz; Schweller, Akzente, Crescendi und Rubati zum Schwärmen… In akustischer Eindringlichkeit manifestierte sich auf diese Weise, was der ausgezeichnete Einführungstext von Tobias Bleek im Programmheft angekündigt hatte: die hörbaren „Schlagschatten“ von Brahms' Tendenz zur Depression – ein ständiger Begleiter, auch während der Komposition seiner heitersten Symphonie.

Hatte man gerade im ersten Teil schon viele aufbrausende Passagen erlebt, gelang dennoch der kontinuierliche Spannungsaufbau in der Symphonie bis zum Schluss in immer wieder, jedes Mal ein wenig stärker aufschäumenden Wogen, die sich schließlich in einem gewaltigen Finale entluden. Dabei unvergleichlich: Simon Rattle – emphatischer Motivator und einfühlsamer Magier am Dirigentenpult.